Unruhige Geister

Die Strahlen der Wintersonne dringen wie spitze Stacheln durch die vielen, winzigen Löcher in der Wand des Tafli und werfen kleine Lichtpunkte, die mich irgendwie an Glühwürmchen erinnern, auf den ziemlich alten und heruntergekommenen Holztisch vor mir. Heute bin ich bei Rejkan, unserem Dorfältesten zu Besuch. Naja so richtig eingeladen hat er mich nicht. Vielmehr ergab es sich so, dass ich jetzt hier bin und darauf warte dass er aus der Küche zurückkehrt und mir den Grauwurz-Tee bringt, den er mir zubereiten wollte. Sicherlich kenne ich unseren Dorfältesten schon lange - oder anders gesagt er kennt mich seit meiner Geburt, aber alleine war ich noch nie bei ihm. Sonst hatten mich immer meine Eltern Annus oder Timon begleitet.

Während ich auf Rejkan warte, schaue ich stur auf die Lichtpunkte vor mir und lasse meine Gedanken wandern. Das Tafli unseres Dorfältesten ist schon recht alt - wie er auch. Vielleicht sollte er mal seine Wände erneuern und wieder Wetterfest machen. Draußen pfeift der Wind durch die Äste des Baumes in dem das Tafli hängt.
Erneut wiederholen sich die Bilder der letzten Nacht und von heute Morgen vor meinem geistigen Auge... gestern Nacht war ich mit meinen Eltern für eine Feierlichkeit draußen - trotz der eisigen Kälte. Beim nach Hause gehen hatte ich im Dunkeln ein grünliches Licht bei unserem Tafli gesehen. Als ich hinging war es verschwunden, doch heute Morgen hatte ich mir die Stelle genauer angesehen und entdeckte ein altes und verschlissenes Taschentuch aus Stoff, an dessen Ecke ein "R" in einem Wappen eingestickt war.

 

Das war bestimmt mal sehr hübsch, doch nun ist es eingerissen, verdreckt und hat lauter rötliche Flecken. Flecken, die wie getrocknetes Blut aussehen. Schon der Gedanke daran lässt mich erschaudern. Ich war mir sicher dass es noch nicht lange im Baum gehangen haben kann. Da tauchte Rejkan plötzlich wie aus dem Nichts auf, sah sich das Tuch an und sagte dass er mir zu dem Tuch etwas mitteilen könne. Dann forderte er mich auf mit ihm zu kommen. Nun bin ich da...und warte.
Die Lichter tanzen immer noch auf dem Tisch vor mir. "Hier der Teeh", sagt Rejkan und reicht mir eine Holzschale mit herrlich duftendem Tee. Ich muss schmunzeln, denn immer wenn er Tee sagt, endet das Wort bei ihm mit einem langen Ausatmen so dass es wie Tee-h klingt. "Habt Dank", sage ich und lehne mich in den gemütlichen Schaukelstuhl zurück während Rejkan auf der anderen Seite des Tisches Platz nimmt. Gespannt schaue ich ihn an.

"Nun.", beginnt Rejkan mit langsamem und fast flüsterndem Ton. "Das Tuch, das du fandest könnte jemandem gehören...einem Mädchen das einst hier war... Pause. Es ist so still, das man dem Gras beim Wachsen zuhören könnte -  wenn es hier oben welches gäbe. "Ich bin fest davon überzeugt dass es von ihr ist, denn es passt alles zusammen.".
Er macht es noch spannender und trinkt erstmal genüsslich einen Schluck Tee. Dann erzählt er die ganze Geschichte. Ruhig und gleichmäßig.
"Vor etwa zwanzig Jahren lebte bei uns im Dorf ein Fusnarmädchen namens Jené. Sie war ein besonders freundliches und fröhliches Wesen voller Neugier.

Eines Tages begab es sich das eine Saratan Familie in der Nähe des Dorfes mit einer Kutsche viel zu schnell auf dem, vom andauernden Regen rutschig und unsicher gewordenen, Weg durch den Wald fuhr und verunglückte. Sie kamen vom Weg ab, rammten gegen einen Baum und die Kutsche kippte um. Die Familie bestand aus einer Mutter, einem Vater und einer kleinen Tochter. Bei dem Unfall wurde der Vater schwer verletzt und war dem Tode nahe. Die Mutter nahm die Tochter mit und versuchte Hilfe zu holen, da sie allein nicht helfen konnte. Da es bereits dunkel war erkannte sie den Weg nicht und lief ziellos durch den finsteren Wald. Das Schicksal brachte sie zu uns.".
Gespannt lausche ich Rejkans Worten und wage es nicht ihn zu unterbrechen wenngleich sich tausend Fragen auf meiner Zunge befinden, die gerne gesprochen werden wollen.
"Natürlich halfen wir sofort. Der Tochter boten wir Speis, Trank und eine Unterkunft, während die Mutter zusammen mit einigen von uns aufbrach um die Kutsche zu suchen und ihrem Mann zu helfen. Nach langer Suche fanden sie die Kutsche endlich und entdeckten auch den verletzen und besinnungslosen Mann etwas abseits der Stelle. Er hatte versucht alleine Hilfe zu holen als er feststellte dass niemand sonst dort war.


Wir brachten alle in das Dorf und unsere Heiler kümmerten sich um die Wunden des Vaters.".
Mir läuft es kalt über den Rücken. Ich hatte nicht erwartet dass die Geschichte des Taschentuchs so traurig sein würde.
Rejkan bemerkt offensichtlich wie ich mich fühle. Er lächelt mich an. "Du hast etwas anderes erwartet, oder?", fragt er mich. "Ihr sprecht für wahr.", antworte ich und bemerke dass meine Stimme etwas zittert, "die Geschichte des Tuches ist recht grausam. Voll Leid.". Rejkan lächelt nur und sagt nichts dazu. Anscheinend traut er mir auch den Rest der Geschichte zu, denn er fährt mit der Erzählung fort.


"Die Wunden des Vaters verheilten nur langsam und er war über Wochen von hohem Fieber geplagt, das ihm die Sinne vernebelte. Die Mutter und die Tochter blieben die ganze Zeit bei uns im Dorf. Die Tochter freundete sich mit Jené an. Schon nach kurzer Zeit waren beide unzertrennlich. Ihr Name war Rebecca.". "Aha", fährt es aus mir heraus, "Der Name beginnt mit R. So wie der Buchstabe auf dem Tuch". "Sehr wachsam.", erwidert Rejkan, "Die Familie war recht wohlhabend. Daher passt ein aus Stoff besticktes Taschentuch durchaus zu Rebecca".

 

"Die Tage zogen vorüber, doch das Fieber des Vaters sank nicht. Immer undeutlicher wurden für ihn die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit.
Dann eines abends, Rebecca und Jené spielten noch am Fluss, trieb das Fieber den Vater dazu in einem Zustand, in dem er weder schläft noch wacht, umher zu wandeln. Er kam in die Nähe des Flusses. Er sah seine Tochter zusammen mit Jené, erkannte jedoch nicht dass sie nur spielte und keine Gefahr drohte.


Er jedoch stürmte auf den Fluss zu und rief: Rebecca, Obacht...ich rette dich. Jené und Rebecca waren so erschrocken, dass sie zu keiner Reaktion fähig waren. Der Vater erreichte die beiden und völlig unerwartet ging er zwischen sie. Er stieß seine Tochter beiseite - in die vermeintliche Sicherheit und begann  dann Jené anzugreifen. In seinem Fieber muss sie für ihn eine Gefahr dargestellt haben, denn er kämpfte mit ihr und beendete rasch ihr kleines Leben. Den rohen Kräften eines wahnsinnigen, erwachsenen Saratan hatte sie nichts entgegen zu setzen. Durch das laute Schreien wurden einige der Dorfbewohner und die Mutter alarmiert und rannten so schnell sie konnten zum Ort des Geschehens. Der Vater suchte inzwischen nach seiner Tochter.

 

Bei seinem Versuch sie in Sicherheit zu bringen hatte er sie von ihrer Freundin fort gerissen, sie dabei jedoch in den Fluss gestoßen. Da Rebecca nicht schwimmen konnte ertrank sie zur selben Zeit als ihr Vater im Kampf mit Jené war. Als die Mutter am Fluss ankam, entdeckte sie ihren Mann mit der leblosen Tochter auf dem Arm. Das brachte ihn zur Besinnung. Weinend brach er am Ufer zusammen. Er begriff was er getan hatte, was wirklich geschehen war. Er hatte zwei unschuldigen Wesen die Möglichkeit genommen die Erfahrungen des Lebens zu entdecken. Ihm wurde klar, dass er mit dieser Schuld nicht leben konnte und so legte er seine Tochter am Ufer ab und stürzte sich selbst in den Fluss. Obwohl er des Schwimmens mächtig war, ging er unter wie ein Stein und ertrank ebenfalls in den Fluten.
Die Mutter versuchte in den folgenden Wochen das Geschehene zu verstehen und zu akzeptieren, doch es gelang ihr nicht. Sie beschloss fort zu gehen und diesen Ort zu vergessen, ihn nie wieder zu besuchen. Sie wurde nie wieder gesehen.".

Tränen kullern wie ein steter, warmer Sommerregen meine Wangen hinunter. Zitternd vor Mitgefühl und Trauer starre ich auf Rejkan. "Was für eine fürchterliche Geschichte!", sage ich, angewidert von all den Grausamkeiten. "Sie ist jedoch noch nicht ganz vorbei.", erklärt Rejkan. "Ich will es lieber nicht hören, es gab genug Leid in Eurer Erzählung.", flehe ich Rejkan an. Einen Moment lang sieht er mir schweigend beim Weinen zu. "So wie alles andere, was rechtschaffenen Wesen geschieht, so hat auch diese Geschichte eine..nun nennen wir es positive Wendung.", versucht Rejkan mich zu beruhigen, "So lasst mich also auch noch den Rest berichten.". Ich überlege eine ganze Weile. Abscheu und Neugier ringen in meinem Geist und dann stimme ich zu. "Nun denn, so fahrt fort.", sage ich und bemerke dabei das meine Stimme immer noch zittert.

"Diese Tragödie hat uns hier im Dorf lange beschäftigt und geprägt. Doch sie ist dennoch bei den meisten im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten. Trotzdem gab es immer mal wieder Berichte über geisterhafte Erscheinungen in der Nacht der Wintermitte.
Das du nun nach ziemlich genau zwanzig Jahren ein Tuch mit dem gestickten "R" gefunden hast, muss eine Bedeutung haben.", erzählt Rejkan.


"War es denn damals auch Wintermitte?", frage ich voll Neugier. "Seit dem Fest der Wintermitte waren sich damals unsere Heiler darüber einig das Sie das Fieber des Vaters nicht mehr heilen können. Drei Tage später Endete die Tragödie am Fluss.", antwortet Rejkan. Ich überlege - mir fällt aber nichts Sinnvolles ein, was mich hier irgendwie weiter bringen könnte. Vorhin befanden sich tausend Fragen in meinem Kopf. Nun scheint dieser leer und dunkel. "Solche Tragödien ziehen oftmals noch Dinge nach sich, die einem wirklichen Ende fehlen. Etwas das getan oder gesagt werden muss.", beschreibt Rejkan.
"Ich verstehe nicht, was Ihr meint?", sage ich und schaue unseren Dorfältesten ratlos an. "Du hast das Tuch gefunden. Du bist Jené durchaus ähnlich. Du hast etwas bei der Feier gesehen - einen Geist. Geister sind oftmals ruhelos wenn sie auf der Suche nach etwas oder jemanden sind, was sie alleine jedoch nicht finden können.", erklärt er.

"Ihr mein es ist kein Zufall dass sie mir erschien und nicht schon vorher als meine Eltern dieselbe Stelle passierten?", frage ich etwas ungläubig. Er nickt nur. "Aber was mag es sein was dem Geist fehlt um Ruhe zu finden? Wessen Geist ist es denn überhaupt? Der von Rebecca? Oder der des Vaters? Oder der Mutter? Oder Jené's?", sprudelt es an Fragen aus mir heraus.
"Finde es heraus. Wenn ich mich nicht täusche hast du dafür noch drei Tage Zeit.", antwortet Rejkan und setzt seinen Becher für einen weiteren Schluck Tee an seine Lippen. "Ist das nicht gefährlich?", frage ich mich selbst.
"Es gibt durchaus Geister, die andern Leid zufügen, doch das glaube ich hier nicht.", erklärt Rejkan.

Ich versinke in Gedanken. Der Geist erschien des Nachts. Vielleicht sehe ich ihn wieder wenn ich mich auf die Lauer lege?
Nachdem ich noch einige Zeit bei Rejkan verbracht habe und meinen Tee austrank, kam ich zu der Entscheidung dass ich mich heute Nacht rausschleichen werde - ganz alleine.
Den Rest des Tages treffe ich einige Vorkehrungen. Ich packe meinen Rucksack, nehme etwas Lichterstaub mit, etwas Essen für die Zeit des Wartens und das Taschentuch natürlich auch.
Dann kommt die Nacht. Erst schleichend und unheimlich wie ein Raubtier. Dann schnell wie ein Augenschlag. Und mit ihr kommt eine Kälte, die problemlos die schon eisigen Temperaturen des wolkenlosen, eiskalten Wintertages in den Schatten stellt. Meinen Eltern habe ich nichts erzählt - aus Angst damit den Geist vielleicht zu verschrecken. Ganz ungefährlich ist das aber auch nicht, dessen bin ich mir bewusst. Die Kälte wird leicht unterschätzt und ehe man sich versieht ist man erfroren.


Als in unserem Tafli alles ruhig ist, Annus und Timon schlafen, husche ich aus dem Bett, schlüpfe in meine dicksten Gewänder und verlasse nahezu lautlos unser Tafli.
Draußen ist es ebenso kalt wie in der Nacht davor. Meine Zähne klappern in dem Moment in dem ich unser Tafli von draußen geschlossen habe. Ich schleiche in die Nähe der Stelle, an der ich das Taschentuch im Baum gefunden hatte und verberge mich hinter einem Gebüsch.
Jeder Herzschlag scheint eine Ewigkeit zu dauern. Mir kommt es vor als würde ich auf dem Boden fest frieren. Lange Zeit passiert nichts und ich überlege schon ob es nicht besser ist einfach aufzugeben und wieder rein zu gehen, als ich im Augenwinkel tatsächlich einen grünlichen Schein erkenne, der sich dem Fundort des Taschentuchs nähert. Trotz der Kälte bewege ich mich überhaupt kein bisschen. Sogar den Atem halte ich an. Je näher die geisterhafte Gestalt sich dem Baum nähert umso mehr kann ich von ihr erkennen.

 

Mein Blut scheint zu gefrieren! Es ist tatsächlich ein Geist. Ein Geist in Gestalt eines Saratanmädchens, das nur wenig größer ist als ich. Es nähert sich dem Baum und bleibt genau darunter stehen, dann schaut es hoch zu der Stelle, an der ich das Taschentuch fand. Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Geistes. Es muss sich um Rebecca handeln! Hat sie es mit Absicht dort abgelegt? Damit ich es finde?
Ich überlege ob ich mein Versteck verlassen soll, als sich eine zweite geisterhafte Gestalt vom Fluss her nähert. Ich erkenne die Siluette eines Fusnars. "Jené!", flüstere ich vor mich hin. Der Geist von Jené schwebt zu dem von Rebecca und beide bleiben eine Zeit regungslos voreinander stehen und schauen sich an. So als würden Sie auf etwas warten.


"Soll ich?", frage ich mich selbst. Dann fasse ich Mut und stehe langsam auf. Die beiden Geister scheinen mich gar nicht zu sehen - sie schauen einander an und warten. Meine Beine fühlen sich wie Wackelpudding an. Dennoch setzte ich einen Fuß vor den anderen und gehe langsam auf die Geister zu. Beim Näherkommen kann ich in das Gesicht von Jené blicken. Sie schaut friedlich und zufrieden aus. Als ich nur noch wenige Schritte entfernt bin, dreht Jené ihren Kopf langsam zu mir und lächelt mich an. Ich lächle zurück. Da dreht auch Rebecca sich zu mir hin, streckt ihre Hand zu mir aus und winkt mich zu sich heran. Dann endlich erreiche ich die beiden.


"Ahrat îo Geon", höre ich eine sanfte und liebevolle Stimme. Aus irgendeinem Grund bin ich mir absolut sicher, dass sie zu Jené gehört obwohl sie den Mund nicht im Geringsten bewegt. "Ahrat îo Geon", antworte ich, "ich bin Lynn. Seid ihr Jené und Rebecca?". Jetzt schauen beide etwas ernster. "Für wahr, das sind wir. Du hast also schon etwas über uns erfahren.", höre ich diesmal eine etwas dunklere Stimme. "Nun, Rejkan hat mir eure Geschichte erzählt.", erkläre ich, "Doch ich verstehe nicht was ich tun kann um euch zu helfen - oder ob ich überhaupt etwas für euch tun kann. Auch verstehe ich nicht warum ihr gerade mir erschienen seid und nicht meinen Eltern?".


"Du bist ebenso jung, gutmütig und von reinem Herzen wie wir.", beginnt Jené, "Deshalb wählten wir niemand anderen als dich.". "Das was passierte war eine grausame Tragödie. Wir hatten noch unser ganzes Leben vor uns...", sagt Rebecca. "Dennoch geschah es nicht böswillig oder aus Habgier.", fügt Jené hinzu. "Wenn es aber nur ein Unfall oder Mißgeschehen war,", frage ich, "warum seid ihr dann hier und nicht im Geisterreich? ... Gibt es das überhaupt?". Einen Moment lang herrscht Stille, dann antwortet Jené. "Ja, so etwas wie ein Geisterreich gibt es wirklich. Alle verstorbenen Seelen gelangen dort hin. Genaugenommen gibt es sogar zwei. Eines für diejenigen, die in ihrem Leben Gutes getan haben und eines für diejenigen, die böse waren. Dorthin kann ein Verstorbener aber nur gelangen wenn er bereit dazu ist".


"Ich denke ihr habt Gutes getan. Was hält euch also davon ab in das Geisterreich über zu gehen?", frage ich voll Neugier. Der Geist von Rebecca schwebt um mich herum auf den Fluss zu. "Komm.", flüstert sie. Langsam gehe ich ihr hinterher und Jené folgt mir mit etwas Abstand.
Wir erreichen das Ufer des Flusses, der im sanften Mondlicht romantisch dahin plätschert. Das es unverändert Winter und somit eiskalt ist, spüre ich überhaupt nicht mehr. In der Nähe der Geister scheint es mir frühlingshaft warm. "Du musst wissen das man sich natürlich nicht selbst aussuchen kann wohin man gelangt. Es gibt eine Art Wärter - einen Gott namens Toos.", erklärt Jené.

 

Ich runzle die Stirn. "Ich kenne die 21 Götter und ihre Namen, doch das Toos dies entscheidet wusste ich nicht.", falle ich Jené ins Wort. "Natürlich kennst du sie mit Namen - du bist eine Fusnar. Dass du nicht alle ihre Aufgaben kennst, erklärt sich auch von selbst - Lynn, du bist noch jung und musst noch viel lernen.", gibt Rebecca zu verstehen. "Toos entscheidet also wer in welches Geisterreich gelangt. Doch er hört sich auch an was der Verstorbene zu sagen hat und was dieser meint.", fährt Jené fort, "Letztlich ist Rebeccas Vater der Grund für uns noch nicht in das Geisterreich über zu gehen. Als er Toos unter die Augen kam, war er fest davon überzeugt ein Mörder zu sein.

 

Er hatte immerhin einem unschuldigen Mädchen und seiner eigenen Tochter das Leben genommen. Deshalb war er davon überzeugt dass er in das dunkle Geisterreich kommen müsse.". "Ach so, ich verstehe.", murmle ich, "Rebeccas Vater kam auf seinen Wunsch hin in das dunkle Geisterreich und ihr könnt so lange nicht gehen bis die Wahrheit ans Licht gekommen ist". "Nicht ganz.", antwortet Rebecca, "Toos ist in der Tat dem Flehen meines Vater nachgekommen. Doch mein Vater war nicht nur der Meinung dass wir beide ihn dafür hassen würden, sondern auch meine Mutter. Wirklich stimmen tut dies bei keinem von uns dreien." Fassungslos schaue ich das nun sehr traurige Gesicht von Rebecca. "Wir beide sind bereits verstorben und können hier nicht mehr direkt eingreifen.", ergänzt Jené.


Wieder prasseln tausend Gedanken und Bilder auf mich ein. "Also! Wie kann ich helfen?", frage ich und bringe es somit auf den Punkt. "Meine Mutter ist die einzig noch lebende von uns.", beschreibt Rebecca, "Nur sie kann die Seele meines Vaters zurück zu Toos holen.". "Aber wie?", frage ich und zucke dabei mit den Schultern. "Du musst sie davon überzeugen es ihm zu sagen.", höre ich Jené sagen. "Bitte!?", gebe ich flapsig und erschrocken von mir, "Wie soll ich das denn schaffen? Soweit ich weiß ist deine Mutter damals gegangen und ward nicht mehr gesehen - Sie wollte nie wieder an diesen Ort zurückkehren, oder?". "Das stimmt zwar, doch das Schicksal will es das sie sich ganz in der Nähe befindet. Zwanzig Jahre sind vergangen und die Zeit heilt bekannter maßen so manche Wunde.", gibt Jené zu verstehen.


"Ich soll sie also finden...und dann?", frage ich, immer noch fassungslos. "Du musst sie hier her bringen, an den Fluss, an die Stelle, wo alles geschah. Der Rest wird sich wohl von selbst ergeben.", sagen Rebecca und Jene wie aus einem Munde. "Na, wenn es weiter nichts ist", gebe ich voll Ironie zurück. "Nicht ganz.", fügt Rebecca hinzu, "eine Kleinigkeit ist da noch.". "Und was?", frage ich neugierig nach. "Du hast dafür nur zwei Tage Zeit." Das hatte ich erwartet denn dann wiederholt sich der Tag der Tragödie.
Ich beginne zu überlegen wie ich denn die Mutter finden könnte. Der Wald ist sehr groß. Diverse Wanderwege und einige Handelsstraßen durchqueren ihn.


Ich komme zu dem Schluss dass ich eine genauere Beschreibung der Mutter benötige um sie zu finden. "Rebecca, wenn ich deine Mutter finden soll, musst du mir beschreiben wie sie aussieht. Am besten wäre es wenn du mir noch irgendetwas sagen könntest, mit dem ich ihr gegenüber beweisen könnte das ich wirklich mit dir gesprochen habe.", empfehle ich. Rebecca überlegt eine Weile. "Sie heißt Ava und ist schlank, etwa einen Meter und siebzig groß, hat langes blondes Haar. Inzwischen ist sie fast vierzig Jahre alt. Sie hat eine kleine Narbe über dem linken Auge.". Wieder überlegt Rebecca einen Moment. "Sie nannte mich immer kleine Blume.", erzählt Rebecca weiter, "Weil sie fand das ich am Morgen erstmal aufgehen müsse bis ich ansehnlich sei - ich war halt ein Morgenmuffel.".


Das sollte reichen. Aber wie kann ich nur feststellen wo sie sich aufhält. Ich könnte natürlich darauf vertrauen dass mir das Schicksal zur Seite steht - aber reicht das wirklich? Selber suchen kann ich mir sparen, dafür gibt es zu viele Möglichkeiten. Ich müsste jemanden fragen, der viel herumkommt. "Ich werde es versuchen.", gebe ich entschlossen bekannt und mache dabei auch ein überzeugtes Gesicht. Rebecca strahlt mich förmlich an und sagt: "Dann war unsere Idee genau dich dafür zu gewinnen die rechte Wahl.".
Ich kehre in unser Tafli zurück und lege mich schlafen. Vielleicht fällt mir morgen etwas ein.

Am nächsten Morgen erwache ich erst spät. Die Nacht war lang und ich habe schlecht geschlafen. Müde und schlapp stehe ich auf und frage zunächst meine Eltern um Rat - ohne Ihnen den wirklichen Anlass zu erzählen.


Eine wirklich gute Idee haben sie aber leider auch nicht.
Ich ziehe mich an und gehe raus - mir ein wenig den Wind um die Ohren wehen lassen - klare Gedanken fassen.
Verträumt stapfe ich flussaufwärts durch den tiefen Schnee und versuche eine Lösung zu finden.
Eine Stimme schreckt mich aus meinem Träumen. "Mich düngt Ihr seid so in Gedanken, das ich weder Feind noch Freund erkennt.", ruft da jemand von links. Erschrocken zucke ich zusammen. Keine zwei Meter neben mir, unter einer Tanne, hockt ein Tisarah mit hellbraunem geflecktem Fell und grinst mich an.
"Fandis!", quellt es aus mir hinaus, "Bitte verzeiht mir, ich habe euch weder gesehen noch erkannt." Fandis habe ich einst im Wald getroffen, als ich ein Geschenk für meine beste Freundin Jül gesucht habe. Damals hatte er mit Hinweise gegeben wie ich die gesuchte Blume finden konnte.


"Das habe ich wohl gemerkt, Lynn.", stellt er fest und grinst dabei immer noch, "Darf ich den Grund erfahren?". "Natürlich dürft ihr, doch lasst mich zuerst meiner Freude Ausdruck verleihen Euch erneut zu sehen.", sage ich hochachtungsvoll. Ich verneige mich leicht. "Eure Hinweise damals waren im Übrigen genau die richtigen", füge ich hinzu. "Es freut mich auch Euch erneut   sehen zu dürfen und noch mehr freut es mich wenn ich Euch damals helfen konnte.", kommt es von ihm zurück.


Einen Moment denke ich nach. Fandis ist bisher der einzige mit einem Titel, den ich je traf.  Fandis D'laa aus dem Hause der Endêr hatte er sich damals vorgestellt. Das klingt nicht nur sehr vornehm sondern auch danach als würde er viel von der Welt kennen und viele Personen kennen.
"Ich hoffe es ist Euch in der Zwischenzeit gut ergangen?", frage ich. "Danke der Nachfrage. Ja, die Geschäfte gehen gut und es gibt nichts was mich betrüben könnte.", erwidert er, "Ich hoffe es geht auch euch gut.".


"Mir ist der Sommer zwar deutlich lieber als der Winter, doch auch das trübt mein Dasein nicht wirklich.", stelle ich fest und fahre fort. "Vielleicht könnt ihr mir erneut helfen...". Ich beschreibe Fandis wen ich suche und sage ihm dass es wichtig ist. Er kratzt sich hinter seinem rechten flauschigen Ohr, das etwas dunkler ist als sein restliches Fell, und denkt nach. "Nun mir ist niemand begegnet, der zu dieser Beschreibung passt aber ich kann mich ja mal umhören", schlägt er vor. Ich stimme erfreut zu.
Fandis empfiehlt das wir uns morgen Mittag hier wieder treffen und er mir dann mitteilt ob er etwas herausgefunden hat. Wir einigen uns darauf und ich kehre nach Hause zurück. Am Abend schlafe ich zufrieden ein und bin überzeugt davon das Fandis fündig wird.

Am nächsten Tag kurz vor dem Mittag treffe ich gespannt an der besagten Stelle ein und warte auf Fandis... ich warte und friere und warte und friere, doch er ... kommt nicht. Ich werde nervös. Heute ist der letzte Tag, der mit bleibt um den unruhigen Geistern zu helfen.
Nachdem ich einige Stunden bibbernd in der Kälte gestanden habe, kehre ich enttäuscht ins Dorf zurück. Warum ist Fandis nicht gekommen? Hat er nichts herausbekommen? Oder ist ihm etwas Wichtiges dazwischen gekommen? Vielleicht hätte ich ihm sagen sollen warum es wichtig ist? Vielleicht hätte ich mich nicht auf ihn verlassen sollen?


Den ganzen Nachmittag zermartere ich mir den Kopf und suche nach einer  Lösung für das Problem. Einfallen tut mir nicht wirklich etwas.
Als es dunkel wird, versuche ich mich in meinem Zimmer mit lesen abzulenken, doch das gelingt nicht so gut.
"Lynn ! ", höre ich eine bekannte Stimme, "Lyyyyynnnn".
Schlagartig springe ich auf, ziehe mich an und so schnell ich kann eile ich zum Platz vor unserem Tafli. Dort steht tatsächlich Fandis...und eine Saratan Frau. Beim Näherkommen erkenne ich eine kleine Narbe über ihrem linken Auge! Er hat sie gefunden - er hat sie wirklich gefunden - und gleich mitgebracht. Ich lächle Fandis an. "Ich hatte tatsächlich mit dem Zweifel gerungen, doch nun beweist ihr dass dies unberechtigt war. Ich danke euch sehr.", sage ich mit gesenktem Kopf. "Das verstehe ich gut.", antwortet Fandis, "Die Suche war nicht einfach und hat viel Zeit in Anspruch genommen.

 

Ohne ein positives Ergebnis habe ich mich nicht zurück zu euch getraut.", sagte er mit einem Lächeln. "Doch lasst mich euch Ava vorstellen. Sie ist eine Händlerin aus Urdas, die eher zufällig in dieser Gegend weilt aber perfekt auf Eure Beschreibung passt.", fügt er hinzu. Ich schaue die Frau an. In der Tat entspricht sie perfekt dem was Rebecca mir beschrieben hat. "Zum Gruße Ava. Vielen Dank das Ihr gekommen seid.", spreche ich mit ernstem Ton und mache dann einen Moment lang Pause. Dann erkläre ich Ava warum ich sie gesucht habe. Zuerst glaubt sie mir kein Wort, doch das ist mehr als verständlich. Erst als ich den Kosenamen ihrer Tochter kenne, beginnt sie der ganzen Geschichte Glauben zu schenken.


"Ich habe ihn niemals für das gehasst, was er getan hat. Ich war einfach nur traurig dass es passiert ist. An dem Tag zerbrach alles, was ich bis dahin hatte. Lange Zeit konnte ich gar nichts tun außer traurig sein. Doch wie heißt es so schön: Die Zeit heilt alle Wunden. Ich würde sagen sie heilt sie nicht, aber sie macht sie erträglich. Viele Wochen und Monate vergingen bis ich neuen Lebensmut fassen konnte. Doch nun ist das alles schon lange vorbei. Wenn es den Geistern und Seelen hilft, werde ich tun, was ich kann", erklärt Ava.

Zusammen warten wir, bis es dunkel ist. Dann machen wir uns auf den Weg zum Fluss. Nach einigem Warten erkenne ich im Fluss ein grünliches Schimmern, das sich uns nähert. Aus dem Wasser steigt ein Geist auf. Groß und stattlich - es ist der verstorbene Vater von Rebecca. Er schwebt still einige Zentimeter über den seichten Wellen des Flusses. Sein Gewand bewegt sich sanft wie in einem geisterhaften Wind - denn in Wirklichkeit ist es windstill. Dann ist eine dunkle männliche Stimme zu hören: "Ava - das ich dich noch einmal sehen darf. Bitte vergib mir meine Taten".
"Heerol, das habe ich doch längst getan.", erwidert Ava in Tränen, "Du hattest keine Schuld, du warst vom Fieber verwirrt und konntest die Wirklichkeit nicht erkennen. Du hast versucht Rebecca zu retten - nicht sie umzubringen... Der einzige der dir vergeben muss, das bist du selbst.".


Heerol macht ein nachdenkliches Gesicht. "Wirklich?". Dann umspielt ein Lächeln seine Mundwinkel. Er scheint verstanden zu haben. "Dann lag ich die ganze Zeit falsch.", erkennt er und reicht Ava seine Hand entgegen. "Du hast Recht. Ich muss mir selbst vergeben. Das kann ich jetzt...Für mich ist die Zeit gekommen endlich Ruhe zu finden. Hab Dank für Deine Hilfe.".
Langsam dreht Heerol sich um und gleitet von uns weg. Je weiter er sich entfernt, desto durchsichtiger wird er und als er die andere Seite des Flusses erreicht ist er verschwunden.
Ich schaue Ava an. Sie weint immer noch, sieht aber auch erleichtert aus. "Auch für mich ist es Zeit zu gehen. Das Leben - mein Leben geht nun weiter.", sagt Sie, dreht sich um und verschwindet in der Dunkelheit.


Nun sind nur noch Fandis und ich da und schauen uns an. "Danke, Fandis, ihr habt mir sehr geholfen.", sage ich mit sanfter Stimme. "Das habe ich gerne getan.", antwortet er, "Wir sehen uns bestimmt mal wieder.".
Zum Abschied reichen wir uns die Hand und dann geht auch er. Ich schaue ihm noch nach, bis auch er mit der Dunkelheit verschmilzt. "Du hast es geschafft.", flüstert jemand neben mir. Ich brauche nicht hinzusehen wer dort spricht - es sind Jené und Rebecca. "Könnt ihr jetzt auch Ruhe finden?", möchte ich wissen. "Ja, denn nun ist alles gut.", höre ich Jenés Stimme. Als ich zur Seite schaue, ist niemand da. Kein Geist weit und breit zu sehen - ich bin allein - und zufrieden.

"Ich habe alte Freunde wieder getroffen. Ich habe unruhigen Geistern helfen können. Ich habe viel gelernt. Über die Götter, über das Leben und darüber das es weiter geht - immer. Und ich habe gelernt das am Ende alles gut wird.", sage ich zum Ende meiner Erzählung. Rejkan schaut mich gelassen an. Ich war am Tag nachdem ich die Geister erlöst habe zu ihm gegangen, um ihm alles zu berichten. "Das wusste ich vorher.", sagt er mit rauer und knurriger Stimme.
Ich blicke offensichtlich ziemlich erstaunt drein. "Als du zuletzt bei mir warst sagte ich ja das die Geschichte am Ende eine - naja nennen wir es positive Wendung haben wird. Du hattest zu der Zeit aber den Zusammenhang noch nicht gesehen und auch nicht gefragt was ich damit gemeint habe. Gemeint war das was du daraus machst".
Rejkan lächelt mich an. Zufrieden, erfahren und sehr wissend.