Lernen, lernen, lernen

Der Himmel ist bewölkt, doch die Luft ist herrlich warm und ein schöner Wind weht mir um das Gesicht während ich, von meinen Flügeln getragen, über eine grüne, weite Wiese fliege, die von bunten Blumen übersät ist. Weit und breit ist niemand außer mir und einigen Vögeln hoch oben am Himmel. Glücklich und zufrieden surre ich über das Farbenspiel, drehe Kurven und schlage Haken - nur zum Spaß.

"Lynn", höre ich plötzlich eine leise und fern klingende Stimme hinter mir. Verwundert drehe ich mich um, kann aber niemanden sehen. "Lynn", klingt es erneut hinter mir. Wieder drehe ich mich um. Alles, was ich erblicke ist ein Baum, von dem ich sicher bin, dass er eben noch nicht da stand. Neugierig fliege ich näher als ich wieder die Stimme höre, diesmal aber lauter und weniger sanft als zuvor. "Lynn!". Der Baum ist ein recht schief gewachsener Nussbaum, der mich an irgendetwas erinnert, aber mir fällt nicht ein woran.


Wieder ertönt die Stimme - kommt sie etwa aus dem Baum? "Lynn, träumst du etwa?", ruft die Stimme... träumen... ich... plötzlich wird mir alles klar. Schlagartig erwache ich aus meinem Tagtraum und finde mich wirklich vor dem Baum wieder. Allerdings bin ich nicht im Geringsten allein. Ich bin umringt von den Mitschülern meiner Klasse, die kichernd zu mir schauen. Weniger freundlich schaut meine Lehrerin, Oulana auf mich herab. "Ich habe dir eine Frage gestellt, Lynn. Wie oft soll ich sie wohl wiederholen bis du gedenkst sie zu beantworten?" Sie schaut mich ziemlich verärgert von oben herab an.


"Ich äh...nun...", stottere ich, denn ich habe es wirklich geschafft mitten am Tage zu träumen und das auch noch mitten im Unterricht. "Wie oft?", fragt Oulana mit nun sehr scharfem Ton. "Gar nicht mehr", antworte ich, doch das war wenig überlegt, denn ich habe nicht die geringste Ahnung was ich zuvor gefragt wurde. Die anderen kichern erneut. Flehend blicke ich zu Jül hinüber, die etwas hinter Oulana steht. Sie zeigt mit ihrer rechten Hand auf den Baum und zuckt dann mit den Schultern. Vermutlich möchte Oulana von mir hören was das für ein Baum ist..., hoffe ich. Ich schaue den Baum genauer an.


"Navatéra Sollum", antworte ich bestimmt. "Bitte?", bekomme ich von Oulana ungläubig zu hören, während einige der anderen in Gelächter ausbrechen. "Navatéra Sollum, ein Drei Kern Nussbaum", ergänze ich meine Aussage. "Liebste Lynn, Wenn du es lieber vorziehen möchtest am Tage zu träumen als meinem Unterricht zu folgen, solltest du einen Ort dafür aussuchen, an dem du keinen deiner Mitschüler vom lernen abhältst - nämlich auf dem Dorfplatz... beim Essenvorbereiten.", sagt Oulana bestimmt und zeigt mit ihrer Hand etwas an mir vorbei in Richtung unseres Dorfes. Verdutzt schaue ich in die gezeigte Richtung und dann wieder zu ihr. "Ich soll zur Strafe beim Essenvorbereiten helfen?", frage ich etwas ungläubig und verärgert. "Na wenigstens das hast du ja anscheinend verstanden.", antwortet sie mit einem Lächeln, "und sei gewiss das ich deine Eltern darüber persönlich informiere". Rumms, das hat gesessen. Timon und Annus werden nicht begeistert sein von einer Strafarbeit und Tagträumereien.


Am liebsten möchte ich mich wehren und Oulana davon überzeugen, dass ich nicht nochmal meinen Geist vom Unterricht schweifen lassen werde, doch ich kenne sie schon lange genug um zu wissen das ich damit nichts verändern würde. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren lasse ich meine Flügel schwingen und fliege in Richtung Dorf.
"Alles geht einmal zu Ende" sagt Timon, mein Vater immer  und damit hat er Recht - zumindest wenn man es auf das Ende der Ferien bezieht, denn die sind seit vorgestern vorbei. Leider ertappe ich mich ab und zu dabei in Gedanken eher woanders zu sein als beim Unterricht. Zur Schule müssen wir Fusnar nämlich auch. Doch ist unser Unterricht eher weniger in Klassenräumen sondern eher draußen im Freien. Dort lernen wir viel über die Natur - über Pflanzen und Tiere, über das Wetter und die Zauberei. Zum gemeinsamen Essen treffen sich dann alle Schulklassen auf dem Dorfplatz.

Den habe ich nun auch erreicht. Das Schulessen bereiten meistens einige der Eltern vor, die im Dorf sind. Bei uns ist es üblich das der eine für den anderen gerne etwas tut und unterstützt so gut es halt geht. Mehrere Erwachsene Fusnar sind am Dorfplatz eifrig dabei Essen zu machen. Frische Früchte werden zubereitet, denn wir Fusnar essen seltener Fleisch als Obst und Gemüse.
"Hallo Lynn", fragt Nija, die Mutter von Coolar, einem Fusnar, der etwas jünger ist als ich und nicht meine Klasse besucht. "Ich bin hier um bei der Vorbereitung der Speisen zu helfen", sage ich halblaut. "Aha, wie kommt denn das? Solltest du nicht lieber beim Unterricht sein?", bekomme ich als Frage zurück, die ich natürlich schon erwartet habe. "Strafarbeit", sage ich knapp und seufze dabei. "Nun lass mal den Kopf nicht hängen", versucht Nija mich aufzumuntern, doch wirklich helfen tut das nicht.

Den Rest des Vormittags entkerne ich verschiedene Früchte, schneide sie klein und lege sie in die dafür vorgesehenen Schüsseln. Dann ist Mittagszeit und die einzelnen Klassen kehren zum Essen auf den Dorfplatz zurück. Zufrieden sehe ich meine Lehrerin Oulana ebenfalls mit meiner Klassen ankommen. Jül fliegt gleich zu mir hinüber. "Das musst du auf jeden Fall nachholen", sagt sie bestimmt, "davon kommt bestimmt etwas in der Prüfung dran.


Ähnlich wie bei euch in der Schule, gibt es auch bei uns Prüfungen, die wir am Ende des Schuljahres und manchmal auch zwischendurch bestehen müssen um in das nächste Lehrjahr zu gelangen. Eigentlich liegt mir die Naturkunde recht gut, doch die Zauberei ist ganz klar das beste Fach. Am wenigsten mag ich die  Musik. Natürlich mag ich gerne Musik hören, doch selber machen - nein, das ist nichts für mich.
"Wieso, was hat sie denn erzählt?", frage ich bei Jül nach. "Erzähle ich dir später. Komm erstmal mit zum Essen - schließlich hast du es auch vorbereitet", erwidert Jül. Zusammen setzten wir uns zu den anderen und essen erstmal ausgiebig. Nach dem Essen schließe ich mich meiner Klasse wieder an - diesmal ohne den Worten von Oulana auch nur eine Sekunde die Aufmerksamkeit zu entziehen.

Als ich abends Heim komme habe ich ein schlechtes Gewissen wegen der Strafarbeit und ich rechne mir Mecker von Timon und Annus, meinen Eltern.
Vorsichtig öffne ich die Tür zu unserem Tafli. "Wie viele Jahre vergehen beim Drei Kern Nussbaum bis er, nachdem man seine Früchte geerntet hat, erneut Früchte trägt?", fällt Timon, mein Vater über mich her, als ich unser Tafli betrete. Sprachlos von der Art der Begrüßung sehe ich Timon nur staunend an. "Was?", frage ich verwirrt. "Wie Bitte", tönt es von weiter hinten. Annus schaut grimmig zu mir hin, während mein Blick wieder zu Timon gleitet. Er schaut eher erwartungsvoll als zornig aus. Ich verstehe gar nichts mehr. "Und?", fragt Timon nach. Ich beginne zu überlegen. Wahrscheinlich wüsste ich die Antwort auf seine Frage wenn ich heute im Unterricht aufgepasst hätte. Und die Tatsache dass er genau danach fragt legt nahe, dass Oulana bereits mit ihm gesprochen hat.

Doch da fällt mir ein, dass ich schon zuvor etwas über diesen Baum gelernt habe..."Die Früchte des Drei Kern Nussbaumes kann man zermahlen und als eine von drei Zutaten für Gneffet's Hustentrank benutzen...",schieße ich los, "...ebenso wie das Ornuskraut...und das blüht zweimal im Jahr...ebenso wie die Rinde des Vogelflieders eine Zutat für diesen Trank ist und die ist immer da, doch ich weiß den Trank kann man nur einmal im Jahr herstellen. Folglich muss es ein Jahr dauern bis die Frucht des Dreikern Nussbaumes nachgewachsen ist." antworte ich überzeugt und mit Bestimmung. "Na, geht doch!", prustet mir Timon entgegen. Er wendet sich zu Annus um, die nur die Augen verdreht.
"Deswegen kann sie trotzdem nicht mitten im Unterricht in Träumereien verfallen", sagt Annus zu Timon. "Das habe ich auch nicht gesagt und das heiße ich auch nicht gut", stimmt er ihr zu und dreht sich dabei zu mir hin. "Ich habe behauptet dass du die Frage von Oulana hättest beantworten können, wenn du sie denn gehört hättest und Annus war der Meinung dass du das nicht gekonnt hättest...und ich hatte Recht", schließt er mit einem Grinsen.

Da fällt mir auch wieder ein woher ich die Information über Gneffet's Hustensaft habe, denn Timon ist ein ausgesprochen guter Zauberer und hat zudem viel Wissen über Heiltränke und solche Dinge. Er hatte mir im letzten Winter von dem Trank erzählt und ich habe es behalten obwohl er es nur beiläufig erwähnt hatte. Nun wird sein Gesicht aber auch ernster. "Lynn, um das klar zu stellen - ich kann mir wahrlich schöneres vorstellen als gegen Abend Besuch von deiner Lehrerin zu bekommen um hören zu müssen das du während des Unterrichts lieber in Tagträumereien verfällst als die wirklich wichtigen Dinge zu lernen. Ich erwarte so etwas nicht noch einmal von dir zu hören, hast du verstanden?", sagte er streng. Ich senke beschämt meinen Kopf  und gebe nur ein leises "Ja, Vater" von mir.

Am nächsten Tag versuche ich es besser zu machen. Wieder haben wir Naturkunde und sind mit der Klasse im Wald unterwegs. "Wer von euch kann mir sagen was für ein Pilz dies ist und ob man ihn essen kann?", fragt Oulana in die Runde. Thea und Illon heben sofort den Arm um anzuzeigen dass sie die Antwort wissen. Da die beiden unsere Klassenbesten sind wundert es mich nicht, dass sie die Antwort kennen. Ich denke einen Moment nach und melde mich dann auch.

 

"Lynn", ruft mich Oulana mit freudig überraschendem Blick auf. "Ich meine es ist ein brauner Zapfenpilz.", sage ich etwas unsicher, "Diesen kann man verzehren wenn man ihn vorher mindestens zwei Stunden in Wasser gekocht hat". Ohne mir ein richtig oder falsch auf meine Antwort zu geben wendet sich Oulana Illon zu. "Illon, was meinst du?", fragt sie ihn. "Das ist ein kleiner Steinbrecher. Giftig", antwortet Illon knapp und beifällig ohne Oulana überhaupt anzusehen. "Nun, Lynn wieso meinst du es sei ein brauner Zapfenpilz wenn Illon meint es sein ein kleiner Steinbrecher?", fragt mich Oulana. Ich komme ins Grübeln. Illon hat von der Naturkunde richtig viel Ahnung. Andererseits bin ich mir ziemlich sicher dass der kleine Steinbrecher Pilz dunkler ist als der Pilz den ich vor mir sehe. Noch bevor ich antworten kann kommt mir Illon zuvor. ".Der braune Zapfenpilz wächst im dichten Wald gar nicht,", sagt er angeberisch, "sondern nur auf hellen und feuchten Lichtungen."

"Dich hatte ich nicht gefragt, Illon", gibt Oulana scharf zurück und blickt dann wieder zu mir - auf eine Antwort wartend. "Ich meine der kleine Steinbrecher wäre dunkler.", sage ich zögernd und dann erscheinen mir die Worte von Illon noch als Bestärkung dazu, "Außerdem ist hier eine Waldlichtung und dort vorne ist ein kleiner Teich - naja, vielleicht eher eine größere Pfütze... auf jeden Fall genug Feuchtigkeit".
"Sehr gut beobachtet", gibt mir Oulana mit einem breiten Lächeln zurück. Dann wendet sie sich Illon zu. "Antworte zukünftig erst wenn du gefragt wirst".

Illon schaut beleidigt und erstaunt zugleich zu mir hinüber und auch Jül's Blick zu mir verrät Erstaunen. Thea grinst mich an und eine abwinkende Handbewegung von ihr zu Illon verrät mir dass sie die richtige Antwort wohl gewusst hätte. Triumphierend macht mein Herz einen Sprung. Diesmal macht mir der Unterricht richtig Spaß. Sicherlich kann ich nicht jede Frage von Oulana beantworten - und auch nicht jede richtig, doch das Lernen macht tatsächlich Freude wenn man mitmacht - auch wenn man nicht alles weiß.