Heute ist ein besonderer Tag. Jül, meine beste Freundin hat nämlich Geburtstag und heute Abend feiert sie ein Fest. Ich habe natürlich auch eine Einladung bekommen. Genau deshalb hatte ich mir
vorgenommen besonders früh aufzustehen. Meine innere Uhr weckt mich noch bevor die Sonne sich über die Wipfel unsers Waldes hebt und mit ihren Strahlen unser Tafli - unser Haus - berührt. Hurtig
springe ich aus meinem Bett, wasche mich und ziehe mich an.
Meine Eltern schlafen vermutlich noch, daher versuche ich ganz leise zu sein.
Ich schleiche in die Küche. Doch da entdecke ich, dass meine Mutter Anuus schon am Ofen steht und backt. Mit verdutztem Gesicht schaue ich sie an. "Na, was treibt Dich so früh aus dem Bett?",
fragt Annus. Ich schaue immer noch etwas verdeppert dreinblickend auf das was Annus da macht. "Ich backe Kuchen für die Feier heute Abend bei Jül. Nachher werde ich nicht dazu kommen, ich muss
Deinem Vater helfen", erzählt Annus. "Ach so", antworte ich, "ich hatte mich schon gewundert". "Und verrät mir mein kleines Töchterlein nun noch was sie so früh machen möchte, oder konntest Du
vor Aufregung vielleicht nicht mehr schlafen?", fragt Annus mich. "Nee, ich habe nur noch kein passendes Geschenk für Jül", erwidere ich und gebe Annus einen Guten Morgen Kuss. "Was, immer noch
nicht?", fragt Annus verwundert.
Geweckt von unserem Gespräch tappt nun auch mein Vater aus dem Schlafzimmer. "Bei dem Lärm würden selbst die Toten erwachen", wirft er ein. "Hallo Timon", antworte ich und gebe auch meinem Papa
einen Kuss. Ihr müsst wissen, dass es bei uns üblich auch unsere Eltern mit dem Vornamen anzusprechen und eher selten mit Mutter, Vater oder so. "So und warum hast Du nun noch kein Geschenk für
Jül? Dass der Geburtstag kommt, dürfte wohl eher weniger überraschend für Dich sein - so kommt er doch jedes Jahr wieder", fragt Annus lachend. "Mir ist halt noch nichts passendes eingefallen -
ich möchte was Besonderes", sage ich etwas nachdenklich. "Wünscht Sie sich denn etwas?", fragt Timon. "Gesagt hat Sie nichts, falls Du das wissen möchtest, aber ich habe schon eine Idee. Doch die
wird schwer zu erfüllen sein", antworte ich. "Was ist es denn?", fragt Annus. "Ich habe Jül echt gerne und sie wird schließlich vierzehn Jahre alt. Da dachte ich an eine Altina Blume.", sage ich
zögernd.
Ihr müsst wissen, dass es bei uns die meisten Eurer Feiertage nicht gibt. Weihnachten und Ostern kennen wir nicht. Dafür sind die Geburtstage umso wichtiger. Ebenso teilen wir das Leben in
Abschnitte à sieben Jahre und somit ist der vierzehnte Geburtstag etwas Besonderes, da er den Beginn des dritten Lebensabschnittes darstellt. Außerdem müsst ihr wissen, dass wir Fusnar sehr
naturverbunden sind und viele Blumen und Gewächse besondere Bedeutung haben. Bei der Altina Blume handelt es sich um eine recht seltene violett-metallisch glänzende Blume, die einen süßlichen
Duft ausstrahlt dem man eine heilende Wirkung zuschreibt. Solche Blumen kann man zwar kaufen, doch so viel Crey habe ich nicht - als reich würde ich uns eh nicht bezeichnen. Alles was wir
brauchen, bekommen wir aus dem Wald. Im Übrigen ist Crey die Währung, mit der man bei uns zahlt - wie bei Euch Euro, Dollar oder so.
"Uff, weißt Du denn wo Du eine solche Pflanze herbekommst?", fragt Timon.
"Ich habe mit Rejkan unserem Dorfältesten darüber gesprochen. Er hat mit Hinweise gegeben.", antworte ich. "Na dann verstehe ich Dein frühes Erwachen - Du wirst sicherlich den ganzen Tag brauchen
eine zu finden.", sagt Annus. "Ich schaffe das schon.", sage ich, "Und falls ich keine finde, denke ich mir kurzfristig etwas anderes aus.", erwidere ich, "Dann sause ich mal los.".
"Willst Du nicht essen?", fragt Annus. Ich blicke sie nur an und lächle ein wenig. "Schon gut", antwortet sie. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ohne Frühstück aus dem Haus gehe.
Obwohl alle bei uns wach sind, schließe ich leise die Türe, lasse meine Flügel schwirren und schwebe langsam hinunter zum Fluss. Gerade gleiten die ersten Sonnenstrahlen über das Wasser und
lassen es mit hellen Punkten glitzern und tanzen. "So, mal überlegen,", sage ich zu mir selbst, "Rejkan sagte ich solle in der Nähe des Wassers suchen, aber an einer Stelle wo das Wasser nur
langsam fließt und wo Schatten ist - die Altina Blume mag kein direktes Sonnenlicht.". Ich denke nach. Der Fluss kommt aus dem Norden und fließt in Richtung Süden.
Einige hundert Meter südlich unseres Dorfes macht der Flusslauf eine Kurve nach links. Je weiter man nach Süden kommt, desto schneller fließt das Wasser. Somit muss ich entweder soweit nach
Süden, wie ich noch nie gereist bin - vielleicht wird der Fluss da wieder langsamer - oder ich Fliege nach Norden - doch da war ich auch noch nicht so oft. Ich entschließe mich für Norden und
lasse mich von meinen Flügeln etwa zwei Meter über dem Fluss in der Nähe des Ufers dahingleiten. Die Sonne zeigt sich immer mehr und ihre Strahlen gewinnen langsam an Kraft. Wenngleich ich nicht
leicht friere bemerke ich dennoch ein leichtes Frösteln. Nachdem ich einige Zeit dem Fluss gefolgt bin, wird der Flusslauf größer und breiter, dafür aber langsamer. Das passt mir gut. Allerdings
bin ich nun auch schon nach Norden weiter geflogen als ich zuvor je gereist war. Ich suche die Ufer nach einer passenden Stelle für die gesuchte Blume ab, finde jedoch keine.
"Ihr seid weit von Daheim", höre ich eine Stimme hinter mir. Erschrocken fahre ich herum und Blicke in die sanften Augen eines wohl eher jungen Tisarah's mit hellbraunem, geflecktem Fell.
"Verzeiht, ich habe Euch nicht kommen hören", sage ich etwas verlegen. "Das mag daran liegen, dass ich bereits hier war als Ihr kamt", antwortet er. "Doch so verzeiht mir, denn ich vergaß mich
vorzustellen: Fandis werde ich genannt, Fandis D'laa aus dem Hause der Endêr", stellt er sich vor, "und mit wem habe ich das Vergnügen". "Ich bin Lynn", stelle ich mich vor, "doch vermag ich
nicht mit Titeln wie den Euren zu kunden", sage ich und verbeuge mich leicht. "Titel sind unwichtig. Taten machen uns aus, nicht die Namen", kontert er, "ich bin erfreut Euch zu treffen - zumal
ich hier schon lange keinen Fusnar mehr sah". "Ich begebe mich sonst auch nicht so weit weg von daheim.", antworte ich. "Was treibt Euch dann hierher?", fragt Fandis. "Ich suche
etwas...vielleicht könnt Ihr mir sogar helfen?", frage ich zögernd. "So tut kund Euer Begehr und ich werde sehen ob ich helfen kann", antwortet Fandis. "Ich suche eine Altina Blume", sage ich und
lächle dabei. Fandis beginnt zu grübeln. "Seltenheit ist eine der Eigenschaften dieser Pflanzen - doch das wisst Ihr bestimmt schon", murmelt er vor sich hin und blickt dabei auf den Boden, "doch
ich habe da eine Idee.". Sein Blick wandert wieder hoch zu mir. "Folgt dem Fluss noch etwas weiter nach Norden, so werdet ihr eine Abzweigung erreichen, an der der Fluss sich teilt. Folgt dem
anderen Strom Flussabwärts bis Ihr an die Stromschnellen kommt. Dort findet Ihr vielleicht einen passenden Ort. Doch gebt Acht, denn in der Nähe der Stromschnellen hausen Hunarken.", sagt er
bestimmt.
„Habt Dank“, antworte ich lächelnd. Gerade will ich lossausen, da erscheint es mir unhöflich einfach so davon zu fliegen. „Mögt Ihr mir auch mitteilen was Ihr hier tut?“, frage ich freundlich.
„Sicher kleine Fusnar“, antwortet er mit seiner tiefen ruhigen Stimme, “Ich suche nach Kräutern für mein Mittagsmahl – Kaninchenbraten“. „Aha“, sage ich zwar – doch von der Kunst des Kochens habe
leider noch sehr wenig Ahnung. Sicher weiß ich was ein Kaninchen ist, doch welche Kräuter man zur Zubereitung braucht vermag ich nicht zu sagen. „Dann möchte ich Euch von Eurer Suche nicht
halten.“, antworte ich und fliege den von Fandis beschriebenen Weg entlang nach Norden. Ich drehe mich noch einmal kurz um und winke ihm zu. Nachdem ich einige Zeit geflogen bin, beginnt mein
Magen vor Hunger zu knurren wie ein Hund. „Na, hätten wir doch auf Annus hören sollen“, sage ich zu mir selbst. Mein Blick wandert am Ufer entlang und da entdecke ich in Sichtweite die
beschriebene Fluss Teilung.
Der Fluss kommt nach wie vor von Norden, doch ein zweiter, kleinerer Strom führt rechtsherum in Richtung Südost. Ich fliege nun diesen Strom entlang. Erneut knurrt mein Magen als süßer Duft von
Kirschblüten in meine Nase steigt. Ich fliege langsamer bis ich ganz anhalte und, die Nase in den seichten Wind haltend, über dem Fluss schwebe. „In der Tat – das ist der Geruch von Kirschen“,
stelle ich zu mir selbst fest. Meine Augen wandern das Ufer entlang bis ich ihn sehe, eine großen stattlichen Kirschbaum, voll von prallen, leuchtend dunkelroten Kirschen. Schon der Anblick lässt
meinen Magen erneut knurren und ich fliege zum Baum um mich erstmal tüchtig satt zu essen. Ich pflücke so viel auf einmal in meine Taschen passt und setze mich dann auf einen Ast im Baum und
genieße das süße Obst. Mein Mund wird dabei von immer mehr roten Kirschspuren geziert.
„He weg da, die will ich haben!“, tönt es plötzlich mit einer tiefen, rauen Stimme hinter mir. Ich fahre herum und blicke in einiger Entfernung auf einen Hunarken. Obwohl ich relativ weit oben im
Baum sitze ist er fast auf Augenhöhe mit mir und obwohl er noch etwas von mir entfernt ist, macht mir sein Aussehen Angst. Die Hunark sind riesig groß – drei Meter hoch und breit gebaut. Sie sind
von sehr dicker Haut umgeben, die ihnen als eine Art Rüstung dient. Der Hunark trägt einen Korb bei sich – offenbar will er da auch Kirschen reinfüllen. Ich denke kurz nach, ob ich meine Angst
und Abneigung zeige…und entscheide mich für das Gegenteil. „Was heißt hier weg da?“, antworte ich keck, „Habe ich das Schild mit Eurem Namen am Baum übersehen oder war da keines? Dann sind die
Früchte wohl für alle da, oder?“. Sein Blick verfinstert sich. „Hau ab habe ich gesagt“, gibt er wütend von sich und hebt dabei einen Stein vom Boden auf, den er in meine Richtung schleudert. Zum
Glück sind die Hunark eher schlecht mit Schuss- und Wurfwaffen, sodass ich ohne Probleme dem Stein ausweichen kann. „He das gehört sich nicht.“, antworte ich empört, „der Baum trägt wohl genug
Kirschen für uns beide“. „Das ist mir doch egal, hau ab wenn du nicht Ärger bekommen willst“, schreit er wütend. Nun sollte ich wirklich das Weite suchen, denn ein wütender Hunark ist wirklich
unberechenbar und Gefährlich – ich habe ja eh erstmal genug gegessen. Eilig fliege ich vom Baum zum Fluss um weiter dem Flusslauf zu folgen. „Ja, ja und lass dich hier nicht mehr sehen“, ruft er
mit noch hinterher.
Nach einiger Zeit habe ich den Hunarken schon vergessen und etwas anderes erregt meine Aufmerksamkeit. Vor mir vernehme ich ein zunehmendes Rauschen - wie hundert Regenfälle. Ich erreiche einen
Wasserfall, dem einige Stromschnellen folgen. Dies muss die Stelle sein, die Fandis beschrieben hatte. Imposant fällt das Wasser etwa fünf Meter in die Tiefe und erzeugt dabei ein schäumen,
rauschen und gurgeln. Ich beginne mit der Suche nach der Blume. Die Götter sind heute auf meiner Seite. Ich finde in Ufernähe eine kleine Stromschnelle, etwas vom Wasserfall entfernt und abseits
des schnell fließenden Wassers. Hier, im Schatten gelegen, windgeschützt steht tatsächlich eine Altina. Wunderschön, in glänzendem Lila. Es duftet nach Lavendel und Orange. Aufgeregt fliege ich
zur Altina Blume hin und lande auf der kleinen Insel. Vorsichtig grabe ich die Blume mitsamt ihrer Wurzeln aus und verpacke sie in dem extra dafür mitgebrachtem Leinenbeutel. Den mache ich im
Fluss noch etwas nass, damit die Blume auch genug Feuchtigkeit für die Rückreise hat. Erleichtert über den Fund trete ich die Heimreise an. Als ich die Stelle mit dem Kirschbaum erreiche höre ich
eine bekannte Stimme rufen – ja sogar flehen „Hilfe, Terrus hörst Du nicht, ich stecke fest“, schallt es durch den Wald. Die Stimme gehört eindeutig dem Hunark von vorhin. Er hat sich tatsächlich
so dämlich im Baum verklettert, dass er wohl abgerutscht ist und nun in einer Astgabel festhängt.
Ich nähere mich und grinse ihn an. „Hilf mir“, sagt er freundlich lächelnd. „Aha – zuerst schickt Ihr mich weg und dann soll ich Euch helfen?“, sage ich ernst. „Das war ja nicht so gemeint“, sagt
er hoffnungsvoll. „Nö,“, sage ich und grinse ihn dabei weiter an, „der nach mir geworfene Stein war nicht so gemeint, der solle jemand anderen treffen – ist schon klar“, antworte ich ebenso keck
wie bei unserem ersten Treffen, „und wenn ich Euch helfen wollte, so würde ich Euch“ – dabei zeige ich mir den Armen auf seine riesigen Ausmaße – „mal eben so vom Baum heben – oder wie denkt Ihr
Euch das…aber vielleicht ist das ja das Problem…hättet Ihr nachgedacht wäret Ihr wohl nicht hier in der Astgabel.“. Mit Genugtuung fliege ich einfach davon. Der Hunark wird schon irgendwann
seinen Freund rufen können. Manchmal sind die Hunarken aber auch dämlich.
Ich reise weiter in Richtung meines Dorfes, dass ich dann am späten Nachmittag erreiche. Ungesehen schlüpfe ich unser Tafli und mein Zimmer darin. Vorsichtig hole ich die Blume hervor und pflanze
Sie in eine eigens dafür angefertigte Schale, die ich schon vor längerer Zeit mal in der Schule gebastelt habe. Sie scheint die Reise gut überstanden zu haben. Die Sonne nähert sich den Gipfeln
der Bäume. Bald beginnt die Feier und ich freue mich riesig darauf.
Wenige Stunden später ist es so weit. Unten auf der Lichtung sind mittlerweile Tische und Sitzmöglichkeiten aus verschiedenen Baumstücken aufgestellt worden. Die Tische werden von lecker
riechenden Torten und Kuchen verziert. Einige von uns machen Musik auf selbstgebauten Holzinstrumenten und die Feier beginnt. „Herzlichen Glückwunsch Jül“, sage ich ihr, als ich mein Geschenk
übergebe. Der Gesichtsausdruck ihrerseits macht die Freude über das Geschenk deutlich. „Woah, super“, sagt Jül und umarmt mich, „eine echte Altina“. Freudestrahlend zeigt sie die Blume ihren
Eltern. Erleichtert über das erfolgreiche Geschenk wende ich mich den Süßigkeiten zu und wir feiern, lachen und tanzen bis spät in die Nacht.