Vogelgezwitscher lässt mich aus meinen Träumen in die Wirklichkeit zurückkehren. Langsam öffne ich meine Augen. Vereinzelte Lichtstrahlen durchdringen die Wände meines Zimmers in unserem Tafli.
Ich strecke und recke mich erst einmal ordentlich und führe einige wenige Schwinger mit meinen Flügeln aus. Nach dem Schlafen müssen wir Fusnar die Flügel erstmal aufschütteln bevor wir
losfliegen können. Schlaftrunken stehe ich auf und tapse - noch mit etwas verklebten Augen zum Ankleidetisch in meinem Zimmer. Für Eure Verhältnisse mag mein Zimmer zwar klein und von
unpraktischer Form sein, doch mir reicht es. Mein Zimmer sieht aus wie ein Ei. Direkt neben meinem schönen weichen Bett, das an der Wand steht, befindet sich ein kleiner Holztisch mit einem
Hocker davor. Auf dem Tisch stehen ein Spiegel und eine Waschschüssel. Neben dem Tisch hängen einige Regale, in denen ich mein Spielzeug und einige Bücher aufbewahre. Auf der andern Seite des
Zimmers ist der Durchgang zur Küche, aus der feiner Geruch von frischem Salat in mein Zimmer dringt. Ein Fenster hat mein Zimmer auch, doch es ist kein Fenster wie bei Euch. Glas haben wir hier
nicht in den Fenstern. Das Fenster ist eine einfache Öffnung in der Wand, die ich in der Nacht mit einer Klappe verschließen kann.
Ich setze mich an meinen Tisch und schaue mein zerzaustes, langes, braunes Haar an. "Da ist wohl erstmal bürsten und waschen angesagt" spreche ich zu mir selbst und greife zur Bürste auf dem
Tisch. Danach wasche ich mir mein Gesicht und putze mir die Zähne - Sauberkeit muss sein.
"Lynn, du kannst frühstücken, wenn du möchtest" ruft meine Mutter aus der Küche. Eigentlich möchte sie dass ich immer frühstücke bevor ich das Haus verlasse, doch sie kennt mich halt.
Normalerweise sause ich lieber sofort aus dem Haus, der warmen Sonne entgegen und schaue was der Tag mir bringt.
Doch heute stimme ich ihr zu und werde erst frühstücken bevor ich der Sonne hallo sage.
Ich öffne meine Fensterklappe und gehe, nun etwas munterer als zuvor, in die Küche.
"Na, gut geschlafen?" fragt Annus, meine Mutter. "Ich schlief wie ein Bär im Winter" antworte ich und setze mich an den Küchentisch. Auf dem Teller vor mir liegt frischer, grüner Salat, den ich
schon bis in mein Zimmer geschnuppert hatte. Während Annus weiter in der Küche arbeitet esse ich den ganzen Teller leer - vielleicht ist ihre Idee erst zu frühstücken doch nicht so falsch.
"Und was hast Du heute vor, Lynn", fragt Annus. "Hmm mal schauen. Gestern habe ich mit Jül bei der Flussbiegung gespielt, wir haben dort Schiffe aus Schilfblättern gebaut und die fahren lassen.
Heute wollten wir vielleicht auf die andere Seite des Flusses in den Wald hinein. Jül's Bruder hat ihr da von einer Bärenhöhle berichtet", erkläre ich. "Eine Bärenhöhle? - davon weiß ich ja gar
nichts. Das ist doch gefährlich!", wirft Annus sofort ein, doch damit hatte ich schon gerechnet. "Nein, die Höhle ist wohl schon ewig verlassen", rechtfertige ich, "wenn es so dicht an unserem
Dorf einen Bären gäbe, hätten wir wohl davon erfahren, oder?". "Na gut Lynn, aber pass trotzdem auf, ja", fleht Annus.
"Ist gut", sage ich und stehe auf, um unser Tafli zu verlassen. Draußen erwartet mich der helle Tag. Durch die Blätter unseres Baumes werfen die Lichtstrahlen helle, tanzende Punkte auf die
Eingangstür, als ich sie schließe. Ein wolkenloser, blauer Himmel strahlt mich an. Begleitet von dem surren meiner Flügel schwebe ich hinab auf den Boden und lande dort auf einer Lichtung
zwischen mehreren Bäumen, in denen viele Tafli hängen.
Ich schließe die Augen und wende mein Gesicht der warmen, gelben Sonne zu.
"Ahrat îo Geon, Ahret Soy" flüstere ich zu mir und ehre somit die Götter und die Sonne. Ja, bei uns gibt es nicht nur lustige Häuser, sondern auch eine andere Sprache als bei Euch.
"Hey Du Langschläfer", höre ich Jül hinter mir rufen. Ich drehe mich um und blicke in ihr, mit Sommersprossen übersätes Gesicht, dass von schulterlangem, tiefschwarzem Haar umrandet ist und das
sich am Ende kräuselt und dabei stets lustig hin und her schaukelt.
"Guten Morgen Jül - ich vermute mal, dass Du schon ewig wach bist, oder?", antworte ich und betrachte ihre schon recht schmutzigen Kleider. "Na ja, der frühe Vogel fängt den Wurm", antwortet sie.
"Ich mag aber gar keine Würmer", antworte ich und grinse dabei, "was machen wir heute?".
"Wir wollten doch die Höhle erkunden", flüstert Jül als ob die Existenz und der Standort der Höhle ein Geheimnis wären.
"Ist in Ordnung", antworte ich, "Du fliegst vor, denn Du kennst doch hoffentlich den Weg, oder?", frage ich.
Ohne zu antworten fliegt Jül los. Ich hinterher. Zuerst fliegen wir auf den Fluss zu, der ganz in der Nähe unseres Tafli liegt. Gleichmäßig und beruhigend rauscht der Fluss vor sich hin.
Kristallklares, kaltes Wasser fließt, von Norden kommend in Richtung Süden und macht, einige hundert Meter südlich unseres Dorfes, eine Kurve nach links. Einen Namen hat der Fluss
eigenartigerweise nie von uns bekommen - es ist halt einfach nur der Fluss.
Plötzlich fängt Jül an schneller zu fliegen und senkt sich dabei dicht über das Wasser ab. "He, hast Du's eilig?", frage ich und versuche ihr zu folgen. Sie antwortet nicht und saust dicht über
die Wellen unter sich in Richtung Süden. Nach einiger Zeit haben wir die Flussbiegung erreicht und folgen weiter dem Wasser.
Erst einige hundert Meter weiter wird Jül langsamer und kommt dann zum Stehen. Sie schwebt nun nur wenige Zentimeter, nahezu regungslos, über dem Wasser und lauscht. Ich verhalte mich ganz still.
"Was ist?", frage ich nach einiger Zeit des Wartens.
"Nichts, ich wollte Dir nur Zeit zum Ausruhen geben", grinst sie mich an und saust wieder los zum Flussufer hin.
Und das obwohl bei unserem letzten Wettfliegen ich eindeutig die schnellere war. "Gib's zu, Du musstest ausruhen und wolltest es nicht zugeben", werfe ich ihr vor. "Ach was", ruft sie
zurück.
Nun haben wir das Ufer erreicht und fliegen langsam in den Wald rein. "Eigentlich müsste ich nur prüfen, ob wir auch an der richtigen Stelle sind", sagt Jül, "die Beschreibung von Lor ist
jedenfalls recht gut, da hinten ist die Höhle schon", sagt Jül nüchtern. Der Fluss ist schon längst nicht mehr zu sehen oder zu hören, so weit sind wir schon in den Wald geflogen - weiter als ich
gedacht hätte. Der Wald zeigt sich in schillernden grün- und Brauntönen der verschiedenen Baumdächer, die sich im leichten Wind hin und her bewegen und zu tanzen scheinen. Das Blätterdach wird
hier und da von den Lichtstrahlen durchbrochen, die helle und weniger helle Flecken auf dem, mit Moosen und Sträuchern bewachsenem Waldboden hervorrufen.
Riesige Pilze wachsen an den Baumstämmen und Blumen in zartem Lila und Rot stehen verstreut umher.
Dann taucht sie direkt vor uns auf, eine dunkle Öffnung, etwa 2 Meter groß, getarnt von Buschwerk und Gras, inmitten eines kleinen Hügels.
Wir landen und lauschen. Die Höhle soll zwar verlassen sein, doch Vorsicht ist stets angebracht. Mit ernsterer Mine sehen wir uns an - nichts Ungewöhnliches ist zu hören, nur das übliche Rauschen
der Blätter und einige Vögel, die fröhlich mit ihrem Gezwitscher umherfliegen. Langsam nähern wir uns dem Höhleneingang. Dunkel ist es hier drinnen und wie tief die Höhle in den Hügel führt,
vermag mein Augenlicht mir nicht zu sagen.
Langsam schleichen wir in die Höhle rein und bleiben dann stehen, damit unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen können. "Unheimlich ist mir schon", gibt Jül zu. "Meinst Du mir geht's
anders", sage ich. Nach einiger Zeit können wir im Halbdunkel des Höhleneingangs besser sehen. Sehr tief scheint die Höhle nicht zu gehen. Die Wände sind aus lehmiger, feuchter Erde die teilweise
von den Wurzeln der Bäume und anderer Pflanzen durchbrochen ist. Es riecht moderig. Unheimliche Stille herrscht hier. Den Wind von draußen kann man hier fast gar nicht mehr vernehmen. "Wollen wir
noch weiter gehen?", frage ich und ertappe mich dabei, dass es mir nichts ausmachen würde, wenn Jül nicht weitergehen wollte. Sie zögert etwas. "Doch, ein wenig weiter traue ich mich noch", sagt
Sie nach einer scheinbaren Ewigkeit. Ich schlucke einmal und gehe dann unsicher weiter.
Plötzlich wird es taghell und ein lautes "Uuuaaahh" ist zu hören. Erschrocken ducke ich mich zusammen und schließe die Augen. Einen Augenblick später öffne ich sie wieder und spähe in die Höhle
hinein.
"Ha Ha Ha", höre ich Jül lachen. Am Ende, der im Licht doch eher kleinen Höhle, die sich nun lieber als kleines Erdloch bezeichnen läßt, steht Lor, Jül's großer Bruder, der mit einem Zauber das
Licht erschaffen hat und sich vor Lachen krümmt.
"Die beiden wollten mir also einen Streich spielen", denke ich und sinne auf Rache.
"Mar ered at Rin", flüstere ich vor mich hin und Zaubere gegen an. Das Licht erlischt sofort.
"Mar Scha Illar Cas Modi Op Flurs Op Goord Siha Naad Cas Siha Relas Din Cur", flüstere ich fort und zeige dabei mit dem linken Zeigefinger etwa einen Meter vor mir auf den Boden. Die sollen
sehen, wen sie hier gefordert haben. Mein Zauber erschafft für die anderen beiden den Anschein als ob der Boden hin und her wackeln würde - eine Illusion. Damit hatten sie nicht gerechnet.
Schlagartig bricht ihr Lachen ab. Panik macht sich in ihren Gesichtern breit. Fluchtartig und mit Geschrei rennen Sie aus der Höhle raus und kommen erst nach einigen Meter zum Stehen. "Die Höhle
stürzt ein", rufen sie.
Diesmal lache ich und gehe langsam und triumphierend und schlendernd aus der Höhle raus.
Jül und Lor schauen mich entsetzt an. "Fordere nur denjenigen, den du zu besiegen vermagst", sage ich. Lor‘s Gesicht ist wie versteinert. "Woher kannst Du diesen Zauber denn?", fragt er erstaunt.
"Tja", antworte ich mit erhobener Brust, "Du weißt doch, dass mein Vater ein guter Zauberer ist". "Der frühe Vogel fängt den Wurm - für die einen gilt das für das Aufstehen und für die anderen
für das Erlernen von Zaubern", sage ich angeberisch.
Nun lachen wir alle zusammen. Jül und Lor wollten mich erschrecken. Das war ihnen auch gelungen, doch ich konnte mich mit einem einfachen Trick revangieren.
Nun fliegen wir alle wieder unserem Dorf entgegen und genießen dabei die Wärme der Sonnenstrahlen auf unserem Rücken. Manchmal können auch Abenteuer spannend sein und gefährlich erscheinen,
obwohl sie gar nicht gefährlich sind.