Das Baumhaus

Klatsch"...und wieder schlägt ein Ast mitten in mein Gesicht. Ich fliege so schnell ich kann mitten durch die Krone eines Laubbaumes hindurch, Jül dicht hinter mir. "Gleich hab' ich Dich", ruft sie und glaubt tatsächlich schon den Sieg unserer kleinen Verfolgungsjagd in den Taschen zu haben. Ich versuche sie durch einen Zick-Zack Kurs abzuschütteln - leider erfolglos. Immer dichter kommt Jül an mich heran und ich merke wie ich langsam aus der Puste komme.
Da hilft nur ein Flugmanöver, mit dem sie nicht rechnet - also sause ich ohne Vorankündigung senkrecht nach oben, aus der Krone des Baumes heraus um gleich danach in einem scharfen Bogen wieder auf den Baum zuzurasen und im Sturzflug in die Krone zu tauchen. Jül versucht mir zu folgen. Bis zum Verlassen der Baumkrone hat sie das auch geschafft, doch dann hat sie mich wohl aus den Augen verloren - zumindest kann ich sie bei meinem Sturzflug nicht mehr hinter mir hören. Ich werde langsamer und setze mich auf einen Ast, der mir mit seinem wunderschönen grünen Blätterkleid ein wenig Deckung bietet. Keinen Moment zu früh, denn schon zischt Jül mit surrendem Flügelschlag an mir vorbei. Gesehen hat sie mich wohl nicht. "Hier Du Ober-Blorf", rufe ich ihr nach. Ihr müsst dabei wissen, dass ein Blorf eine Art Schlage ist, die nicht sehen kann. Jül dreht sich zu mir um, hört dabei aber nicht mit ihrem rasanten Flug auf. "Rumms". Wie in Zeitlupe sehe ich wie Jül langsam von dem mächtigen Ast, mit dem sie zuvor frontal Bekanntschaft gemacht hatte, wieder abzublättern scheint. Benommen taumelt sie dem sicheren Boden entgegen.

"Meime Mase", höre ich sie jammern. Ich kann mir ein Lachen nur schwerlich verkneifen - dafür ist die Szenerie einfach zu drollig. Nachdem Jül den Boden erreicht hat, fliege ich zu ihr hin und setze mich zu ihr. "Das wollte ich nicht bezwecken, Jül, tut mir leid", sage ich mitleidvoll. "Schom gut", antwortet sie - immer noch recht nasal klingend, "ich hätte ja auch eimfach dahim schauem kömmem wo ich himfliege". "Hast Du Dir sehr wehgetan - laß mal sehen", sage ich und schiebe ihre linke Hand beiseite, die sie schützend vor ihre Nase gehalten hatte. Dick wie eine Steckrübe und feuerrot wie eine Tomate schaut ihre Nase aus. "Hmm", sage ich nachdenkend, "soll ich versuchen das wieder gut zu machen?". "Ich befürchte, dass ich bei meimer jetzigem Aussprache keimem brauchbarem Zauber himbekomme", stammelt sie.
"So sei es", sage ich ernst und konzentriere mich auf den Zauber, der vor mir liegt. "Mar Scha Cas Vardas Êer Cas Soy Cur Goord Soy Naad Din Cur", flüstere ich und schaue dabei zum Himmel zur Sonne hin während ich meine rechte Hand auf ihre Nase lege. Ich spüre wie die Kraft der Sonnenstrahlen durch mich hindurch über meinen Arm auf Jül übergehen. "Mar Scha Cas Êer Üsar Olidâr Cas Quîjn Dur Cur", flüstere ich fort. Jül's Nase bekommt wieder das Aussehen, das zu einer Fusnar gehört - klein und zierlich. "Dank Dir Lynn", sagt Jül erleichtert und steht auf.

Es hat doch immer wieder Vorteile wenn man des Zauberns fähig ist. Wenn Du das nicht kannst musst Du jetzt aber nicht traurig sein. In Deiner Welt gibt es ja auch Ärzte und Krankenhäuser - so etwas haben wir hier im Wald nicht. Höchstens in den Städten gibt es Heiler und Ärzte.

"Vielleicht sollten wir uns auf etwas weniger rasantes einigen", sage ich lachend. "Wohl denn Dame Lynn, ich stimme Euch voll und ganz zu", sagt sie vornehm, "doch so sagt an was genau Ihr zu tun gedenkt".
"Schau Dir den Baum doch mal genau an, wie schön wirr und undurchschaubar seine Äste stehen, was hältst Du davon wenn wir uns hier einen kleinen Unterschlupf bauen...", beginne ich. "Genau,", fällt Jül dazwischen, "wir bauen ein Baumhaus - unser eigenes Tafli".

Begeistert von der Idee beginnen wir passende Äste zusammenzutragen. Um die Teile fest zu verbinden benutzen wir die Rank Gewächse der Bäume, die euren Lianen ähneln. Am Ende des Tages haben wir schon eine Menge Baumaterial zusammengesucht und in der Nähe des Baumes versteckt.
Immer noch voll Euphorie fliegen wir Heim. "Und zu keinem ein Sterbenswort", flüstert Jül mir noch zu, bevor ich mein zu Hause erreiche. "Nee, das ist jetzt unser Geheimnis - und wehe Du erzählst deinem Bruder davon", antworte ich. "Na ich würde sagen da passen zwei Dinge nicht zusammen - nämlich die Tatsache dass es ein Geheimnis bleiben soll und mein Bruder. Die Tratsche kann doch nichts für sich behalten", gibt Jül zurück.
"Na dann gute Nacht. Wir treffen uns morgen am Baum", rufe ich ihr noch hinterher und gehe dann ins Haus.

Am nächsten Morgen stehe ich früh auf. Richtig schlafen konnte ich vor Aufregung eh nicht. Meine Eltern liegen noch in ihrem Bett und Timon - mein Vater schnauft wie ein Maultier. Ich schleiche mich derweilen aus dem Haus und fliege hinunter auf die Lichtung vor unserem Tafli. Die Sonne ist noch nicht zu sehen, doch das stört mich nicht. Ungehindert fliege ich zu unserem Versteck das etwas außerhalb unseres Dorfes liegt.
Als ich den Baum erreiche ist alles still - Jül scheint noch nicht da zu sein und das ist selten, denn sonst ist sie der früheste Frühaufsteher den ich kenne.
Ich überlege, ob ich mit dem Bau unsers Taflis schon anfangen soll, als ich ein leises Surren näher kommen höre.
"Hallo Lynn, konntest Du auch nicht richtig schlafen?", fragt Jül. "Dafür war ich viel zu aufgeregt", sage ich und kann mir ein Gähnen nicht verkneifen.

Sofort fangen wir mit dem Bau unseres Baumhauses an. Wie so oft sind wir uns bei fast allen Dingen sofort einig und schnell entsteht die Basis unseres Taflis. Ihr müsst wissen, dass wir unsere Tafli von oben nach unten bauen. Da unsere Tafli hängen muss zuerst nämlich das Dach gebaut werden. Zwischendurch suchen wir uns frische Früchte und Nüsse von den umherstehenden Bäumen. Wenn wir Durst haben ist das auch kein Problem, denn der Fluss ich nicht allzu weit.
Nachdem wir schon ziemlich weit gekommen sind, fliegen wir auf den Boden um unser Bauwerk aus der Distanz anzusehen.
"Nicht ganz so gleichmäßig wie bei uns zu Hause, aber auch nicht schlecht", sage ich stolz. "Nicht schlecht. Ich würde sagen das ist eine Meisterleistung", protzt Jül.
"Wir sollten da rechts noch ein Paar Zweige anbringen, dann sieht man es schwerer, oder was meinst Du?", frage ich. "Gute Idee. Schließlich wollen wir ja dass nicht irgendein vorbeikommender zufällig unser Baumhaus entdeckt", sagt Jül. Wir bringen noch weitere Zweige an der Außenwand an.

Klein ist es, aber gut getarnt und hübsch obendrein. Ich klettere zuerst ins Innere, Jül kommt gleich hinterher. Innen ist es herrlich dunkel - ein Zeichen dafür, dass die Außenwand relativ dicht ist, da nicht einmal das Sonnenlicht herein kann. Ich versuche die Fensterklappe zu öffnen. Die hakt zwar ziemlich aber es wird schon gehen.
"Super !", jauchze ich. "Weißt Du was jetzt noch fehlt?", fragt Jül, "Wir brauchen etwas Verpflegung und vielleicht ein wenig Lichterstaub".
Lichterstaub ist ein feines Pulver dass, wenn man es anfeuchtet, zu leuchten beginnt. "Dann soll es so sein. Ich besorge etwas zu Essen und Du holst den Lichterstaub. In Ordnung, Jül?", frage ich. "Das machen wir so", antwortet sie.
Sofort sausen wir wieder Heim. Als wir im Dorf ankommen, müssen wir feststellen, dass wir schon den ganzen Tag verbracht haben ohne es wahrzunehmen.
"Meine Tochter lässt sich also auch mal wieder sehen", ruft mir Timon strahlend entgegen, "und ich dachte schon Du wärest vielleicht mit irgendwem durchgebrannt". Empört sehe ich ihn an. "Liebster Vater,", beginne ich hochnäsig, "habt Ihr nicht vor kurzem noch festgestellt, dass Euer Töchterlein ja noch soooo niedlich und klein sei - und nun vermutet Ihr so etwas ! Nicht doch".
"War ja auch nicht ernst gemeint", grinst er mir entgegen, "Du hast Dich aber den ganzen Tag nicht sehen lassen. Habt Ihr etwas gegessen?". "Ja, was halt so in der Gegend herumstand", antworte ich. Jül winkt uns noch zu und geht dann auch Heim. Zusammen betreten Timon und ich unser Tafli.

Am nächsten Tag ist der Himmel bedeckt und es ist windig. Wieder treffe ich mich mit Jül bei unserem Baumhaus. Ich habe ein paar von Annus leckeren Keksen stibitzt und Jül hat tatsächlich etwas Lichterstaub in einer kleinen Dose mitgebracht. Während draußen der Wind bläst, machen wir es uns in unserem Tafli bequem. "Schön gemütlich ist es hier", sage ich zufrieden schmatzend mit einem Keks im Mund. "Hmm", brummt Jül zustimmend - als wir eine Leise Stimme von draußen hören "Jü-hül... Jü-hül..". "Das ist doch Lor, der da ruft", flüstert Jül. "Ja, das klingt wirklich wie Dein Bruder", tuschle ich zurück. Vorsichtig spähen wir aus der kleinen Fensterklappe, die wir natürlich nur einen Spalt weit öffnen - schließlich soll unser Baumhaus ein Geheimnis bleiben. Nach kurzem Warten erspähen wir ihn. Lor fliegt in der Nähe des Baumes herum und ruft immer noch nach seiner Schwester. Er scheint weder unser Baumhaus noch uns zu sehen. Dann verschwindet Lor wieder aus unserem Blickfeld. Wir können uns ein Kichern nicht verkneifen, doch da kommt Lor wieder näher und setzt sich doch tatsächlich auf einen Ast, der so dicht an unserem Baumhaus liegt, dass wir ihn vom Fenster aus an den Ohren ziehen könnten. "Na, die kriegt Ärger", sagt Lor zu sich selbst, steht auf und fliegt wieder davon. Grinsend drehe ich mich zu Jül um. Plötzlich wandelt sich ihr grinsendes Gesicht und sie wird Kreideblass. Sie reißt die Augen auf und gibt ein erschrockenes Quitschgeräusch von sich. "Ich hab's verpennt!", ruft sie. "Was denn?", frage ich erschrocken. "Wir sind heute Nachmittag eingeladen und ich sollte rechtzeitig wieder zu Hause sein!", sagt sie mit leicht zitternder Stimme.

Sofort verlassen wir unser Baumhaus und schauen in den Himmel. Die Sonne zeigt uns, dass der Nachmittag schon begonnen hat. Schnell wie der Wind rasen wir nach Hause. Als wir uns unserem Dorf nähern, sehen wir Jül's Eltern schon wartend und besorgt auf dem Dorfplatz stehen und mit Lor reden. "Dann suche halt nochmal beim Fluss", sagt Jül's Vater zu Lor als er uns entdeckt.
"Jül, komm sofort her!", ruft er Jül zornig entgegen, "Du solltest doch zum Mittag nach Hause kommen". "Wir haben uns doch Sorgen gemacht", gibt Jül's Mutter zu verstehen und schaut dabei weniger zornig als besorgt drein.
"Es tut mir Leid.", sagt Jül mit hängendem Kopf, "wir waren so beschäftigt, dass wir vergessen haben wie spät es ist". "Jetzt kommen wir deinetwegen zu Spät - ist Dir das klar?", sagt Jül's Vater wütend und fuchtelt dabei mit seinen Armen umher. "Dann laß uns jetzt sofort los.", sagt Jül's Mutter bestimmt und alle Viere fliegen fort. Ich gehe auch Heim -  kann bestimmt auch mir nicht schaden mich da mal sehen zu lassen.

"Hallo Lynn. Na was machst Du denn für ein Gesicht", sagt Annus zu mir und lächelt mich an. "Jül hat Mecker bekommen, weil wir die Zeit vergessen hatten und sie sollte zum Mittag wieder daheim sein - eigentlich jedenfalls", sage ich etwas traurig, denn ich habe ja auch nicht auf die Zeit geachtet. Andererseits hatte sie mir von der Einladung ja auch nichts gesagt.
Den Rest des Tages bleibe ich im Dorf und lasse mir den Wind ins Gesicht wehen - schön ist das wenn man sich mal so richtig durchpusten lässt.

Am nächsten Tag fliege ich zu Jül nach Hause. Da niemand zu sehen ist, klopfe ich an die Tür. Jül's Vater öffnet mir. "Hallo Lynn, Du möchtest sicherlich mit Jül spielen, oder?", sagt er freundlich. Doch ohne eine Antwort von mir abzuwarten fährt er fort: "Jül hat für zwei Tage Stubenarrest". "Oh  schade", sage ich etwas überrascht. "Na ihr könnt ja meinetwegen trotzdem kurz miteinander reden", sagt Jül's Vater und geht hinein um Jül zu holen. Einen kurzen Augenblick später kommt Sie zur Tür. "Das gab ein Donnerwetter sage ich Dir.", flüstert Jül, damit ihre Eltern sie nicht hören, "Ist aber nicht so schlimm. Zwei Tage wirst Du auch ohne mich überleben. Hauptsache Lor hat unser Tafli nicht sehen können - war doch super, oder?", erklärt Jül und lächelt dabei. "Ja, das stimmt. Na dann werde ich mal wieder gehen", sage ich.
Jül hat Recht, die zwei Tage werden schnell vergehen und unser Tafli scheint wirklich recht gut geworden zu sein. Schade nur, dass unsere Ferien sich dem Ende zuneigen. Dann beginnt wieder das Lernen. Schule gibt es bei uns nämlich auch noch...