Die glücklichen Schnecken

Irgendwo am Rand einer großen Stadt liegt ein Haus und zu diesem Haus gehört ein kleiner Garten. Nun ja winzig ist er nicht aber eben auch nicht riesig – überschaubar halt. In diesem Garten gibt es etwas Rasen und einige Blumenbeete, einen Kirschbaum und einige Büsche.

In diesem Garten wohnen die beiden Schnecken-Geschwister Felix und Felicia. Beide gehören zu denjenigen Schnecken, die stets ein Schneckenhaus mit sich herumtragen und beide sind noch sehr jung. Nun musst du wissen, dass Schnecken sowieso nicht so alt werden wie du aber im Vergleich zu uns Menschen sind diese beiden etwa fünf Jahre alt.
Mancher behauptet vielleicht dass Schnecken einfach nur langweilig dahin schleichen, doch das stimmt nicht, denn eine Schnecke ist ja viel kleiner als wir und wenn sie vorwärts kriecht ist das für sie schnell genug – und erleben können Schnecken auch etwas … pass mal auf.

Es ist ein herrlicher Sommermorgen. Die Sonne beginnt gerade mit ihrer Bahn über der großen Stadt und die ersten Sonnenstrahlen fallen in den kleinen Garten.
Auf einem großen, grünen Blatt, dass zu dem Kirschbaum im Garten gehört, befindet sich ein kleines braun-graues Schneckenhaus mit einigen hellen Flecken darauf. Als die Sonnenstrahlen auf das Blatt treffen beginnt die kleine Schnecke darin zu erwachen. Langsam – denn Schnecken haben es eigentlich nie eilig – tauchen kleine Fühler unter der Öffnung des Schneckenhauses auf. Vorsichtig tasten Sie die Umgebung ab. Dann kommt allmählich ein Schneckenkopf hervor. Es ist Felicia, die gähnend der Sonne entgegen schaut und erst einmal blinzeln muss. „Guten Morgen Felix“, kommt es langsam und müde von ihr, „hast du auch gut geschlafen?“. Es bleibt still – keine Antwort ist zu hören. Felicia wird wacher. „Felix ! Wo bist du denn schon wieder?“, fragt Felicia diesmal etwas lauter, doch es kommt immer noch keine Antwort. "Mal wieder ausgebüxt, was?", murmelt Felicia vor sich hin. Felicia schaut sich auf dem Blatt um, doch ihr Bruder Felix ist nirgendwo zu sehen. Eigentlich könnte Felicia sich jetzt Sorgen um ihren Bruder machen, doch sie kennt ihn und seine Streiche schon zu genüge.

Sie kriecht zum Rand des Blattes um darüber zu sehen und da entdeckt sie ihn. Felix hängt unter dem Blatt, auf dem Felicia sitzt und grinst ihr entgegen. „Na du Langschläfer“, sagt Felix, „ich habe wohl auch gut geschlafen aber nur nicht so lange wie du“.
„Liebster Felix“, sagt Felicia belehrend, „ich bin eine Schnecke und kein Bäcker. Die müssen mitten in der Nacht aufstehen um Brötchen zu backen – ich nicht“.
„Ja, ja schon gut“, meint Felix versöhnend. „was hältst du davon wenn wir erstmal etwas zu fressen finden. Ich finde von da unter duftet es schon herrlich nach frischen Blättern“, sagt Felix fordernd.

Felicia streckt ihre Fühler in die Luft. „Stimmt, frische grüne, saftige Blätter“, gibt sie zu und beide machen sich auf den Weg. Von ihrem Schlafplatz am Baum aus ist es für eine Schnecke richtig weit bis zum Boden. Dafür kann eine Schnecke aber auch richtig toll klettern – obwohl eigentlich klettert eine Schnecke nicht richtig – vielmehr klebt sie am Untergrund gleitet einfach den Baumstamm hinunter.

Etwas später haben die beiden den Boden erreicht und kriechen auf das Gras, das vom Morgentau noch feucht ist. Während Felix dem Duft der leckeren Blätter folgt, schleckt Felicia etwas Wasser von den Grashalmen um sich satt zu trinken. Gerade als Felix die Blätter erreicht hat und herzhaft zubeißen will passiert es! Ein großer, schwarzer Vogel landet direkt hinter Felix auf dem Rasen. Felix kann ihn nicht sehen und kriecht einfach weiter, doch Felicia erkennt die Gefahr. „Felix Achtung der Vogel“, ruft sie – doch es ist zu spät. Der Vogel öffnet seinen langen Schnabel und schnappt zu. Sofort verkriecht sich Felix in sein Schneckenhaus – hier ist er erstmal sicher. Aber der Vogel nimmt einfach das gesamte Schneckenhaus in seinen Schnabel und fliegt los. Hilflos schaut Felicia zu, wie der Vogel mit Felix vom Rasen abhebt und zu einem Baum in der Nähe fliegt. Oben am Baum ist ein Vogelhaus aus Holz befestigt. Der Vogel fliegt dort hinein.

„Felix !“, schreit Felicia, doch er kann sie nicht hören. „Ich muss etwas unternehmen“, nimmt Felicia sich vor. Sie macht sich auf den Weg zum Baum mit dem Vogelhaus. Für den Vogel war das nur ein kurzer Flug, doch für Felicia ist die Strecke wirklich weit.

„Schon so früh unterwegs“, hört Felicia eine freundliche Stimme von hinten. Sie dreht sich um und schaut in die dunklen Augen einer Feldmaus. „Guten Morgen, Herr Maus“, sagt Felicia höflich doch auch kurz, denn sie muss sich ja beeilen um Felix zu helfen. „Wohin denn so schnell?“, fragt die Maus. „Mein Bruder wurde von einem Vogel weggeschnappt und zu dem Vogelhaus dort oben gebracht. Ich muss schnell hin um ihm zu helfen“, erklärt Felicia während sie weiter kriecht.

Die Maus schaut zum Vogelhaus hoch und beginnt zu überlegen. „Nichts für ungut, liebe Schnecke, aber bis du da bist ist der Sommer vorbei. Und hast du denn schon überlegt wie du deinem Bruder helfen willst?“, fragt die Maus. Felicia bleibt stehen und denkt nach. „Nein, ich habe keine Ahnung wie ich ihm helfen soll“, gibt Felicia verlegen zu, „ aber ich muss ihm doch irgendwie helfen.“. „Das stimmt zwar“, sagt die Maus bestimmt,“ aber ich glaube nicht, dass du es ohne Hilfe schaffen kannst. Vielleicht kann ich dir helfen – komm klettere auf meinen Rücken, zusammen sind wir schneller“, fordert die Maus auf, „Ich heiße übrigens Wilbour“. „Nett dich kennen zu lernen Wilbour, ich bin Felicia“, sagt Felicia als sie auf Wilbours Rücken kriecht. Kaum ist sie angekommen, schon hoppelt Wilbour los in Richtung Vogelhaus. Felicia ist noch nie so schnell unterwegs gewesen und selbst für eine Schnecke muss sie sich richtig doll festhalten um nicht herunter zu fallen. Die rasante Fahrt geht über einige Äste und Maulwurfhügel hinweg.

Wenige Augenblicke später haben die beiden den Baum erreicht in dessen Krone das Vogelhaus befestigt ist. „Kannst du denn auch klettern?“, fragt Felicia. „Klar doch“, antwortet Wilbour forsch und beginnt den Baum hinaufzuklettern. Doch nur mit Mühe schafft er es den glatten Stamm empor zu steigen. Nun befinden sich Wilbour und Felicia dicht unter dem Vogelhaus. „Felix, kannst du mich hören?“, ruft Felicia, doch niemand antwortet. „Vielleicht....“, beginnt Wilbour, doch er möchte nicht daran glauben dass es für Felix bereits zu spät sein könnte. Wilbour entscheidet sich nachzusehen. Er klettert zum Eingang des Vogelhauses. Von drinnen sind Geräusche zu hören, ein Kratzen und Fiepen. Kaum hat Wilbour sich auf wenige Zentimeter dem Eingang genähert, da kommt der große Vogel heraus geschossen und geht auf Wilbour los. Felicia kann sich nicht mehr halten und fällt von Wilbours Rücken herunter. Sie landet ein wenig tiefer in einer Astgabel während Wilbour vor dem Vogel Reiß aus nimmt. Felicia ergreift sofort die Chance und kriecht zum Eingang hinauf.

Wilbour hat währenddessen den Vogel abgeschüttelt und versteckt sich zwischen den dichten Blättern des Baumes. Der Vogel kreist noch einige Male um dem Stamm, kann Wilbour aber anscheinend nicht entdecken. Dann fliegt der Vogel einfach davon und Wilbour kommt aus seinem Versteck hervor. „Das war knapp. Der sucht jetzt bestimmt Futter“, sagt Wilbour prompt.
Felicia hat inzwischen den Eingang erreicht und schaut vorsichtig in das Dunkel.
Von drinnen sind immer noch Geräusche zu hören. Nachdem die Augen von Felicia sich an die Dunkelheit gewöhnt haben erkennt Felicia was sich im inneren des Vogelhauses abspielt. Da sind drei kleine Vogelküken und auf dem Boden des Vogelhauses liegt Felix. Er hat sich immer noch in seinem Schneckenhaus versteckt, denn sonst hätten die kleinen Vögel ihm bestimmt schon ein Ende gemacht. Felicia überlegt, doch ihr will nicht einfallen wie sie Felix helfen kann ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.

„Ich passe da nicht hinein“, sagt Wilbour, der mittlerweile auch bei dem Eingang angekommen ist. „Aber vielleicht kannst du sie ablenken?“, fragt Felicia. „Warte, ich habe eine Idee“, murmelt Wilbour und verschwindet schnell.
Kurz darauf kommt er wieder. „Bestimmd dommd der Vodel dleich wieder“, nuschelt er und hat dabei die Backen voll. „Ma los, hole Felix, ich lenge sie ab“, brummelt Wilbour weiter. Felicia hat zwar keine Ahnung was Wilbour vor hat, doch sie glaubt ihm und klettert direkt auf die hungrigen Vogelmäuler zu. Gerade als sie in die Reichweite ihrer schnappenden Schnäbel kommt beginnt Wilbour von oben Sand aus seinem Mund auf die Vogelkinder zu spucken. Wie ein Regen aus kleinen Steinen geht es auf die Küken nieder. Erschrocken zucken sie zurück und schließen ihre Mäuler. Felicia hat die Situation erkannt und kriecht so schnell eine Schnecke halt kann zu Felix hin. „Felix ! - schnell wir müssen fliehen“, ruft sie. Felix streckt einen Fühler aus dem Schneckenhaus. „Felicia? Bist du das?“,fragt er. „Ja, aber wir haben jetzt keine Zeit – beeile dich“, ruft sie ihm zu.
Beide gleiten die steile Wand des Vogelhauses hinauf während Wilbour seine letzten Sandkörner verschiesst. Kaum sind die beiden Schnecken außer Reichweite, da geht Wilbour der Sand aus und die Vogelkinder springen wieder hervor. Sie hüpfen im Vogelhaus wild auf und ab um an Felix und Felicia heranzukommen, doch die beiden haben den Eingang in letzter Sekunde erreicht.

„Das war 'ne prima Idee“, ruft Felicia Wilbour freudig entgegen als sie sich vor dem Vogelhaus treffen. Doch für Ausruhen ist noch keine Zeit, denn der große Vogel kommt in diesem Moment zurück. Mit weit ausgebreiteten Flügeln rast er auf sie zu. „Aaahhh“, rufen die drei Freunde wie aus einem Mund und springen in letzter Sekunde bei Seite. Das war keinen Moment zu früh, denn der Vogel kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und kracht gegen die Wand des Vogelhauses. Benommen  stürzt er in Richtung Boden und landet dort sehr unsanft im Gras.

„Juhuu ! Wir haben es geschafft“, ruft Felicia. Froh der Gefahr entgangen zu sein machen die drei sich auf den Rückweg. Der große Vogel kommt wieder zu sich und fliegt schnell zu seinem Haus.
Nach einiger Zeit haben unsere Freunde wieder den Fuß des Kirschbaumes erreicht. „Vielen Dank Wilbour, ohne dich hätte ich Felix nicht retten können“, sagt Felicia bewundernd. „Keine Ursache“, sagt Wilbour, der trotzdem etwas stolz ist. „Ich muss mich am meisten bedanken, nämlich bei euch beiden“, sagt Felix erleichtert.

Hier trennen sich die Wege der drei zunächst wieder. Wilbour hoppelt über das Gras davon und Felix und Felicia machen sich auf den Weg zu den noch immer saftig und lecker duftenden Blättern. Vorsichtiger und aufmerksamer als vorher – aber glücklich.