Das verlorene Kind

Irgendwo am Rand einer großen Stadt liegt ein Haus und zu diesem Haus gehört ein kleiner Garten. Nun ja winzig ist er nicht aber eben auch nicht riesig – überschaubar halt. In diesem Garten gibt es etwas Rasen und einige Blumenbeete, einen Kirschbaum und einige Büsche.

 

In diesem Garten wohnen die beiden Schnecken-Geschwister Felix und Felicia. Beide gehören zu denjenigen Schnecken, die stets ein Schneckenhaus mit sich herumtragen und beide sind noch sehr jung. Nun musst du wissen, dass Schnecken sowieso nicht so alt werden wie du aber im Vergleich zu uns Menschen sind diese beiden etwa fünf Jahre alt.


Mancher behauptet vielleicht dass Schnecken einfach nur langweilig dahin schleichen, doch das stimmt nicht, denn eine Schnecke ist ja viel kleiner als wir und wenn sie vorwärts kriecht ist das für sie schnell genug – und erleben können Schnecken auch etwas … pass mal auf.

 

Sonnenschein weit und Breit. Wie Wolken aussehen ist schon fast in Vergessenheit geraten. Der Sommer ist im vollen Gange. Felix und Felicia, die beiden Schneckengeschwister haben es sich unter einem großen Blatt gemütlich gemacht, dass viel Schatten spendet. Felix knabbert gerade an etwas Grünzeugs das er gesammelt hat und Felicia wippt gelangweilt mit ihren Stilaugen im Takt hin und her. „Links. Rechts. Links. Rechts“, nuschelt sie dabei vor sich hin. „Ist das so eine Art Sport?“, fragt Felix mit breitem Grinsen, „Schneckenaerobik vielleicht?“. Felicia schaut Felix verärgert an. „Nur weil ich nicht wie du unentwegt esse und mich daher auch mal langweile machst du dich gleich über mich lustig?“. „Naja es schaut halt lustig aus. Das was du da machst. Wie auch immer es heißt“, erklärt er und grinst immer noch.

 

„Wollen wir vielleicht irgendetwas unternehmen?“, fragt Felicia genervt. „Was denn?“, kommt von Felix zurück. „Na wenn ich eine Idee hätte, wäre mir vermutlich nicht langweilig, oder?“, gibt Felicia patzig zurück. Felix macht sich auch daraus einen Spaß. „Wollen wir fangen spielen?“, fragt er beiläufig. „Ha ha, sehr lustig. Ein Schneckenrennen.“, sagt Felica. „Verstecken vielleicht?“, schlägt Felix diesmal vor. „Na klar!“, antwortet Felicia, “Und derjenige, der abzählt muss nicht wie üblich bis zehn sondern bis fünftausendzweihundertundacht zählen. So lange brauchen wir nämlich um ein passendes Versteck zu erreichen. Wie wär’s...“. Felicia wird abrupt unterbrochen als ein lauter werdendes Geraschel der Blätter zu hören ist. Gleichzeitig sind ab und zu dumpfe Schläge zu hören und dann prallt wie aus dem Nichts von oben ein Vogelküken direkt vor Felix auf den Boden. Der Aufschlag ist so doll, dass der Boden leicht zittert.

 

Erschrocken verkriecht sich Felix in sein Schneckenhaus. Eine scheinbare Ewigkeit vergeht bis er seine Augen vorsichtig vortastet und einen Blick wagt. Felix hat so seine Erfahrungen mit Vögeln. Einst wurde er von einem Entführt und von dessen Küken fast gefressen wenn da – ja wenn da nicht Felicia zusammen mit Wilbour der Feldmaus eine Rettungsaktion gestartet und ihn aus den Fängen der Widersacher befreit hätte.

Dieses Küken ist aber erheblich kleiner als diejenigen, die ihn damals verspeisen wollten. „Bleib in Deckung!“, hört er Felicia rufen, die sich offensichtlich irgendwo links hinter ihm befindet. Vorsichtig gleitet Felix etwas aus seinem Schneckenhaus heraus und kriecht dann rückwärts zu Felicia hin. Keinen Moment lässt der dabei das bisher regungslos liegende Küken aus den Augen.
Nun aus sicherer Distanz betrachten beide das genauer, was da so vom Himmel gefallen ist. Das Küken hat nur wenige Federn und sieht doch noch sehr winzig aus. Selber fliegen kann es gewiss noch nicht. Es liegt schlicht wie tot auf dem Rücken. „Und nu?“, fragt Felix so in den Raum. „Es sieht anders aus als die, die dich fressen wollten, oder?“, fragt Felicia zurück. Schlagartig zuckt das Küken und beide Schnecken sind schwuppsdiwupps erneut in ihren Häusern verschwunden. „Au, au!“, tönt es von dem Küken. Felicia ist diesmal die erste, die aus ihrem schützenden Haus hervorkommt.

 

„Hallo?“, fragt sie vorsichtig in Richtung Küken. „Au, au!“, wird unverändert erwidert. Felicia nimmt all ihren Mut zusammen und kriecht näher an das Küken heran. „Kannst du mich hören?“, fragt sie diesmal lauter und deutlicher, „Brauchst du Hilfe?“.  Das Küken versucht sich irgendwie aufzurichten, was ihm nach mehreren Anläufen auch gelingt. Der Vogel ist zwar noch klein aber immer noch viel größer als die beiden Schnecken. Taumelnd und offenbar noch vom Sturz benommen tapst es einige Schritte von links nach rechts bis es letztlich halbwegs zum stehen kommt. Sein linker Flügel steht irgendwie eigenartig schräge vom Körper ab. „Au, au!“, ruft es unentwegt. „Du hast dir den Flügel gebrochen.“, stellt Felicia fest. „Ja, das glaube ich auch.“, antwortet da das Küken, „Das tut so sehr weh. Au, au“. „Wie bist du denn hierher gekommen?“, fragt Felix, der inzwischen auch etwas dichter gekommen ist. „Und wer bist du überhaupt?“, ergänzt Felicia.
„Meine Mama nennt mich Lilu.“, erklärt das Küken, „Ich bin eine Blaumeise und ich bin aus meinem Nest gefallen.“ „Aus deinem Nest gefallen?“, fragen Felix und Felicia gleichzeitig und ungläubig, „Boah das ist bestimmt hoch. Wir sind übrigens Felix und Felicia“. Lilu, die kleine Blaumeise scheint sich etwas zu beruhigen. Sie schaut die beiden Schnecken an und kippt dabei ihr kleines Köpfchen abwechselnd nach links und rechts. „Ihr seid Schnecken, oder?“, fragt Lilu neugierig. „Yo!“, antwortet Felix in seiner so typisch laxen Art, “Sind wir.“. „Dann tut ihr mir nichts, oder?“, fragt Lilu etwas ängstlich. „Wir? Dir? Nee eher andersherum.“, erklärt Felix, der sich noch sehr gut an seine letzte Begegnung mit Vögeln erinnern kann. „Davon weiß ich nichts, dass wir Schnecken essen. Ich bekomme bisher immer nur kleine Fliegen und Mücken.“, stellt Lilu fest. Ein entspanntes „Puuh“ ist von Felix zu hören. „Und warum bist du aus dem Nest gefallen?“, möchte Felicia wissen, „Hat deine Mama nicht genug aufgepasst?“. „Meine Eltern sind laufend unterwegs um Essen für mich und meine Geschwister zu fangen“, sagt Lilu, „Beide waren nicht da als es passierte. Mein großer Bruder machte sich ziemlich breit und da bin ich halt irgendwie gestolpert und gefallen. Au tut das weh“.

 

Felicia beginnt zu überlegen. „Dann müssen wir zweierlei tun. Erstens müssen wir deinen Flügel verbinden, damit er gut heilen kann und zweitens müssen wir dich wieder in dein Nest bekommen.“, stellt sie fest. „Yo!“, stimmt Felix zu. Lilu neigt erneut ihr Köpfchen und blinzelt die beiden an. „Ihr habt Recht. Mit dem kaputten Flügel komme ich nie zurück. Fliegen kann ich sowieso noch nicht – Flugstunden gab’s noch keine. Aber wie wollt ihr hier helfen?“, fragt sie neugierig. Felicia überlegt erneut. „Wir können dir vermutlich nicht helfen, wir sind schließlich nur Schnecken, aber wir haben schon einiges gelernt – nämlich dass man mit Freunden fast alles schaffen kann.“, findet Felicia.


„Freunde?“, fragt Lilu, „So etwas habe ich nicht. Nur Geschwister.“. „Doch hast du. Jetzt. Uns.“, bestimmt Felix, „Wir müssen nur mal nachdenken wie wir dir helfen können.“.
Felix und Felicia beginnen zu tuscheln. Lilu versteht nur Wortfetzen die wie Namen klingen wie Wilbour und Ite. Weiterhin legt sie ihr Köpfchen mal nach links und mal nach rechts. Felix kommt in stutzen, schaut Lilu an und sagt: „Das macht Felicia auch immer – aber mit ihren Augen“. Lilu staunt nicht schlecht als Felicia mit ihrer Augenwippübung anfängt. Im Takt wippen alle drei einige Zeit hin und her – von links nach rechts und zurück. Lilu mit ihrem Köpfchen und die Schneckengeschwister mit ihren Augen. Dann lachen alle drei laut los. „Jetzt habe ich auch schon eine Idee“, sagt Felicia. Die anderen beiden lauschen gespannt. „Ich habe mal gehört, dass man einen gebrochenen Flügel einige Zeit ganz ruhig halten und schienen muss, dann wächst der wieder zusammen. Das hat Wilbour mal erzählt, weil es es bei den Menschen gesehen hat.“, beschreibt sie. „Und wie soll das gehen?“, will Lilu wissen. Felicia überlegt. Diesmal hat sie keine Idee – und Felix auch nicht. Kurzerhand entschließen sie sich ihren Freund Wilbour, die Feldmaus um Rat zu fragen.


„Ja, ja schienen muss man das.“, plappert er schnell wie der Wind, „Die Menschen benutzen dafür irgendwie so Tücher und Stöcker, in denen sie das einwickeln. Genau weiß ich das auch nicht aber so ungefähr ist das wohl“. „Wir haben aber keine Tücher.“, stellt Felicia fest. „Dann brauchen wir etwas Ähnliches. Etwas das gut hält“, meint Felix.
Alle überlegen einige Zeit. Dann hat Felix eine Idee. „Mir fällt da etwas ein aber ich weiß nicht ob sie helfen wird.“, sagt er geheimnisvoll. „Was denn?“, fragt Wilbour. „Wer denn?“, fragt Lilu.
„Ich rede von... Sabine!“, sagt Felix – was den anderen ungefähr gar nicht weiter hilft. „Wer in aller Welt ist denn nun wieder Sabine?“, will Felicia wissen. „Sie ist... ähm... nun... eine Spinne!“, erklärt Felix. „Du kennst eine Spinne, die Sabine heißt?“, fragt Felicia ungläubig, „Manchmal frage ich mich wen du eigentlich nicht kennst, Felix. Und was soll eine Spinne in diesem Fall tun?“. „Sie kann mit ihrem Spinnenfaden den Flügel schienen. So ein Faden hält mächtig viel aus müsst ihr wissen. Und sie könnte Lilu füttern so lange der Flügel heilt. Sie fängt ja auch Fliegen und so’n Zeug in ihrem Netz.“ Das leuchtet allen ein obwohl die Idee schon etwas eigenartig ist.


So machen sich alle auf den Weg zu Sabines Netz. Sabine ist eine Kreuzspinne. Richtig groß und Fett. Ihr Netz ist bestimmt dreißig Zentimeter im Durchmesser und mitten drin sitzt sie und wartet auf Beute. „Huhu Sabine!“, ruft Felix schon von weitem. „Hallo Felix“,  lispelt Sabine zurück, „Wen bringst du denn da alles mit?“. Als Sabine jedoch Lilu entdeckt, huscht sie sofort in ihr Versteck. „Ups“, sagt Felix, „Da hatte ich wohl noch etwas vergessen, den Vögel essen auch Spinnen.“. Felix versucht Sabine zu beruhigen und erklärt ihr die Situation. Nur ganz vorsichtig lugt Sabine aus ihrem Versteck hervor. „Und sie will mich nicht fressen?“, fragt sie. „Nein, das möchte ich nicht.“, erklärt Lilu. „Irgendwie scheint diesmal jeder vor jedem Angst zu haben.“, stellt Felicia fest.


Es dauert eine ganze Zeit bis Sabine sich ganz hervor traut und sich die ganze Geschichte anhört. Dann stimmt sie dem Plan zu. Sabine klettert auf den Flügel von Lilu und spinnt ihn ganz vorsichtig ein. Zusätzlich befestigt sie den Flügel noch am Körper. Keinen Millimeter mehr kann Lilu ihren linken Flügel nun bewegen und der tut jetzt auch nicht mehr so sehr weh.

Tage vergehen. Sabine fängt genug Fliegen für Lilu und sich und füttert die kleine Blaumeise.


Dann irgendwann ist es so weit. Erneut krabbelt Sabine, die Spinne auf den Flügel von Lilu und trennt die Fäden, die den Flügel all die Tage gestützt haben. Zuerst ganz vorsichtig, doch dann immer heftiger bewegt Lilu den Flügel „Hurraa es geht!“, ruft sie laut und flattert aufgeregt mit ihren Flügeln umher. Dabei hebt sie schon ein wenig ab. Dann wird Lilu traurig. „Aber wie soll ich jetzt nur in mein Nest zurück kommen?“, fragt sie. Bevor einer der anderen nach einer Idee suchen muss, kommt diese ausnahmsweise mal von ganz alleine. Vom Himmel. Prompt landet ein anderes Blaumeisen Küken nicht all zu weit entfernt auf dem Boden. Allerdings nicht ganz so stürmisch wie Lilu. „Frederik!“, ruft Lilu laut. Der andere Vogel dreht sich zu ihr um. „Lilu, du bist es!“, kommt ihr als Antwort entgegen, „Wir haben dich schon gesucht und vermisst. Wie schön dich zu sehen.“. Lilu erklärt ihrem Bruder was geschehen ist. Dieser lauscht erstaunt und kann die ganze Sache gar nicht so ganz glauben so phantastisch ist die Geschichte. Dann erzählt er ihr dafür dass heute für alle Küken der Erstflugtag ist und dass er es als erster versucht hat mit dem fliegen. Er erklärt Lilu die Übungen, die die Eltern ihm beigebracht haben.


Einige Zeit später ist auch Lilu schon gar nicht so schlecht mit dem Flügelschwingen. Mit Hilfe von Frederik schafft sie es den ganzen weiten Weg zurück zum Nest. Dabei flattert sie jeweils ein kleines Stück empor und macht dann eine Pause. Groß ist die Freude und das Hallo von den Eltern und den Geschwistern als Lilu das Nest erreicht. Sie ist glücklich, doch Lilu möchte an diesem Tag noch mehr erreichen. Sie möchte das Fliegen lernen und so steht sie nun am Rand des Nests und schaut hinunter in die Tiefe, in die sie vor einigen Tagen gefallen war. Sie nimmt all ihrem Mut zusammen, stößt sich vom Rand des Nestes ab und das erste Mal fliegt sie wie ein richtiger Vogel. Noch recht unsicher dreht sie eine enge Kurve über ihren Rettern und Freunden. „Seht doch nur ich kann fliegen!“, ruft sie immer wieder. Dann landet sie bei Sabine der Spinne, Wilbour sowie Felix und Felicia, die mit Staunen die Flugkünste bewundert haben. „Ich muss euch allen von ganzem Herzen danken.“, sagt sie, noch ganz aufgeregt vom Flug. „Gern geschehen“, sagt Felix. „Wir haben alle einander geholfen und gelernt dass manchmal die Angst voreinander unbegründet ist. Wenn wirklich Not ist, sind Freunde eben einfach da.“, spricht Felicia mit weiser Stimme.


Lilu fliegt zurück zum Nest, wo ihre Eltern sich über das zurückgekehrte, verlorene Kind freuen. Felix und Felicia freuen sich auch. Sie freuen sich darüber schon wieder neue Freunde gefunden zu haben.