Die Weihnachtsbärchen

Das erste, an das ich mich erinnerte war eine große Halle. Ich saß auf einem Laufband und kurz vor mir saß ein weiteres Bärchen, das genau so aussah wie ich und vor ihm noch eines. Soweit mein Blick reichte nahm dieses Bild kein Ende. Links von mir waren weitere Laufbänder, ebenfalls voll mit lauter Bärchen, die aber anders aussahen als ich.
Die Fahrt mit dem Laufband war ziemlich rasant. Es ging viele Male bergauf und bergab, eine Kurve nach links und dann nach rechts. Der Fahrtwind stand mir ins Gesicht, das machte riesigen Spaß.
Irgendwann wurde das Band langsamer und ich konnte vor mir mehrere Menschenfrauen erkennen, die uns Bärchen vom Laufband nahmen. Eine ältere von ihnen nahm mich in einen festen Griff und hob mich ziemlich rabiat in die Höhe; Sie beäugte mich von allen Seiten, stupste meinen Bauch und stellte mich dann auf einen Wagen, auf dem bereits mehrere Bärchen meiner Sorte standen. „Was passiert wohl mit uns“ fragte ich die anderen, aber die hatten leider auch keine Antwort.

Als der Wagen voll war, kam ein junger Mann und schob den Wagen vom Laufband fort. Während ich die ältere Dame in der Entfernung immer kleiner werden sah, konnte ich über ihr ein Schild sehen, auf dem stand „Qualitätskontrolle“. Der junge Mann sah völlig gelangweilt aus und schlurfte mit den Schuhen. Nach einigen Metern hielt er an und mich griff jemand von hinten. Wieder wurde ich emporgehoben. Diesmal aber behutsamer als vorher, ja beinahe sanft. Ich wurde gedreht und sah eine junge Frau mit einem bunt beklecksten Kittel und blauen Farbtupfern im Gesicht. Sie setzte mich auf einen Tisch und schaute mich an. Die anderen Bärchen vom Wagen wurden von anderen Frauen abgeholt. Da erst fiel mir auf, dass ich, wie die anderen Bärchen auch, nichts anzuziehen hatte. Wir waren einfach schlicht weiß. Nun griff die Frau zu einem Pinsel und Farbe und begann mir Kleider anzumalen. Einen schönen blauen Mantel mit einer blauen Pudelmütze, damit mir nicht kalt wird. Als sie mit dem blau silber gestreiften Winterschal fast fertig war, ertönte eine gruselige Hupe und die Frau wusch ihren Pinsel aus, legte ihn auf ein Tuch und stand auf. Während sie zügig fortging fragte ich mich ob denn etwas Schlimmes passiert war, oder ob sie mich vielleicht nicht nett genug fand um meinen Schal fertig zu malen. Erneut fragte ich die anderen, aber die waren vom Reißaus der Malerinnen genauso überrascht wie ich. Langsam verging einige Zeit und so warteten wir, was als nächstes passieren würde.

Irgendwann ertönte das gleiche Geräusch wie zuvor. Freudig sah ich, wie die Frauen zurück zum Tisch schlenderten. Es roch nach Kartoffelbrei mit Soße und nach Himbeereis, als die Frau erneut zum Pinsel griff und meinen Winterschal doch noch fertig malte. Zum Schluss langte sie in eine Dose mit Glitzerstaub und streute ein wenig davon über mich. So mochte ich mich leiden, nett anzusehen und freundlich glitzern tat ich auch. Nachdem sie fertig war, fasste sie mich an den Beinen an, hob mich auf den Wagen zurück und nahm sich ein anderes, noch nicht bemaltes Bärchen.

Nachdem alle Bärchen angemalt waren, kam erneut der gelangweilt aussehende Mann, der jetzt noch gelangweilter aussah und schob uns mit dem Wagen in eine Ecke der Halle. Von der Decke hing eine Heizung herunter, unter die er uns stellte. Man war das warm, denn erstens bin ich ein Eisbärchen, das sowieso nicht so schnell friert und zum zweiten habe ich ja mittlerweile warme Kleidung bekommen. So schwitzten wir hier eine Zeit lang bis der Mann wieder kam und einen von uns anfasste. „So,“, sagte er,“ die Farbe ist trocken“ und lud uns wieder auf den Wagen zurück. Nach erneuter Fahrt hielten wir diesmal an einem großen Tisch, an dem viele Männer und Frauen mit Bergen von Pappkartons saßen, auf denen „Porzelaneisbären Handbemalt 28cm hoch“ stand. Außerdem war auf den Kartons ein Bild von uns abgedruckt, sogar die Glitzerkörner waren zu sehen. Nach und nach wurden wir in die Kartons gestellt. Als der Deckel von meinem Karton geschlossen wurde, bekam ich ein wenig Angst, weil es jetzt ziemlich dunkel war. Was nun passierte, konnte ich nicht mehr sehen, sondern nur fühlen und hören. Ich wurde hochgehoben und wieder abgestellt, wieder hochgehoben, verschoben, angerempelt, gedreht, gekippt. Dann passierte lange Zeit nichts. Lediglich ein gleichmäßiges Brummen konnte ich hören. Dann begann es leicht zu vibrieren. So ging es fort und irgendwann schlief ich ermüdet ein; was für ein Tag.

Als ich erwachte, machte jemand den Karton auf. Ich blickte in das freundliche Gesicht eines älteren Herrn, der mich behutsam aus dem Karton hievte und ansah. „Richtig niedlich sind sie geworden“, sagte der Herr. „Danke“ antwortete ich, aber er schien mich nicht zu hören. Der ältere Herr trug mich durch einen winzigen Laden, in dem es viele Dinge zu kaufen gab, mit denen ein kleines Bärchen nichts anfangen kann. Dann brachte er mich zu einem großen Schaufenster und ich sah ein kleines Türmchen mit Pappkartons, auf denen ich und meine Artgenossen abgebildet waren. Ich wurde vor die Kartons, direkt vor die Scheibe des Schaufensters gestellt. Dann hängte der ältere Herr noch ein Schild über mich auf dem „Weihnachtseisbär aus Porzellan, handbemalt“ und in großer Schrift „19,97 DM“ stand. Nun saß ich da und konnte die Menschen am Schaufenster vorübergehen sehen. Einige schauten zu mir hin, Kinder zeigten mit den Fingern auf mich. Andere liefen nur hastig vorbei. Die Tage vergingen. Es begann zu schneien und die Straßen vor mir wurden nach und nach weiß und zauberhaft ruhig. Auch die meisten Leute draußen schienen das so zu sehen, denn sie wurden ebenfalls besinnlicher, liefen dafür aber mit zunehmend großen Taschen und Tüten umher.

Dann eines Abends war es soweit, direkt hinter mir hörte ich eine Stimme „Es ist nur noch einer da, die anderen sind bereits verkauft, aber wenn Sie mit dem Ausstellungsstück vorlieb nehmen...“. Es war eindeutig die Stimme des älteren Herren. „Ich mache Ihnen auch einen besonderen Preis. Es ist ja schließlich Heilig Abend“, fuhr er fort. Eine andere, weibliche Stimme sagte „Natürlich möchte ich diesen Bären haben, die anderen beiden Bärchen Figuren habe ich eben bereits gekauft und der fehlt mir noch“. Ich wurde aus dem Schaufenster gehoben und zum Ladeninneren gedreht. Alle Pappkartons hinter mir waren fort. Ich schaute in das, vor Kälte rosige Gesicht einer Frau, die mich förmlich anstrahlte. „Soll ich ihn einpacken?“, fragte der ältere Herr die Frau. „Nein“, antwortete sie, „ich trage Ihn so“. „Dann macht das neun Mark und fünfzig“, sagte der ältere Herr und die Frau gab ihm daraufhin ein paar Münzen. „Ein frohes Fest wünsche ich Ihnen“, sagte die Frau und verließ mit mir auf dem Arm den Laden. Draußen wehte ein kalter Wind und leichter Schneefall wurde in mein Gesicht gepustet. Vor dem Laden wartete ein Mann mit einer großen Papiertüte, der sich zu uns hindrehte, „Der sieht ja auch schnuddelig aus“, sagte er und mir war klar, dass er mich meinte. „Danke antwortete ich“ und zu meinem Erstaunen blickten beide zu mir hin und sagten „Jetzt bekommst Du ein neues Zuhause“. Der Fußmarsch war nicht all zu lang. Da ich die ganze Zeit getragen wurde, konnte ich mir die Gegend gut ansehen. Der Schnee hatte mittlerweile in Schneeregen gewechselt und war trotz meiner Kleidung nicht mehr so angenehm.

Endlich erreichten wir ein grau-weißes Haus mit einem kleinen Garten; die Tür wurde aufgeschlossen und ich wurde drinnen auf einen runden Tisch gestellt. Der Mann holte aus der großen Tüte zwei weitere Bärchen hervor, die ich am ersten Tag auf dem Laufband neben mir gesehen hatte. Nun standen wir da und sahen uns um, während der Mann und die Frau sich im Zimmer suchend umschauten. „Ich glaube, auf der Fensterbank würden sie gut stehen“, sagte die Frau, und der Mann stimmte mit einem bärigen Brummen zu. „Aber zuerst müssen wir Euch noch vorstellen“, ergänzte die Frau. Und wir wurden allen aus dem Haus vorgestellt. Das waren eine ganze Menge. Kleine Stoffeisbärchen, Stoffrucksackeisbärchen, ein Porzelaneisbärchen, das in einer Blume saß, eine große orientalische Standfigur, die eine Lampe trug und „Teje“ hieß, eine Figur, die „Tanis“ genannt wurde und viele mehr...
Von nun an stehen wir jedes Mal zur Weihnachtszeit, wenn es kalt draußen ist auf der Fensterbank und genießen die wohlige Wärme im Haus, während draußen das Hamburger Schmuddelwetter tobt.
Denn wir sind die Weihnachtsbärchen !